Tonio
Hände.
Ich saß noch eine Weile mit Tonio auf dem Schoß, bevor ich ihm eine saubere Hose über die neue Pamper anzog und ihn in seinen Sitz zurücksetzte. Er lachte mich so freudig an, als wolle er seine Dankbarkeit für diesen herrlichen Tag zeigen, den wir beide doch prima einer viel zu komplizierten Welt abgetrotzt hatten. Wir fuhren weiter, und Tonio begrüßte die Strohrollen an den Hängen mit einem wiederholten »Küh … Küh!«
Erst als ich Marsalès auf einem Ortsschild las, wurde mir das Herz wieder schwer von Sorgen um mein plötzlich schlechter gewordenes Verhältnis zu Mirjam. Vielleicht, wenn sie uns so zurückkommen sah, Vater und Sohn, nach einem Tag voller Abenteuer … entspannt, gebräunt … daß dann …
Mirjam und ich wollten Tonio so in Erinnerung behalten, wie wir ihn, noch warm, auf der Intensivstation des AMC zurückgelassen hatten, nicht entstellt vom Rigor mortis, der in Kürze auch auf die Gesichtsmuskeln übergreifen würde. Sein Leichnam war, nachdem wir fort waren, zu juristischen Zwecken fotografiert und danach in die Leichenhalle im Keller gebracht worden. Dort hatte ihn später das von uns ausgesuchte Bestattungsunternehmen abgeholt, um ihn in einer Totenhalle aufzubahren. In den Tagen zwischen Tod und Beerdigung hatten wir Tonio nicht mehr gesehen. Ich hatte mir nicht einmal eine Vorstellung von ihm gemacht, wie er da lag, in seinem noch offenen Sarg.
Nach dem, was Dennis über seinen Besuch in der Totenhalle erzählt hatte, drängte sich mir gestern am späten Abend mit der Kraft einer Vision auf, wie es gewesen sein mußte: die fremden Arme, die ihn hochhoben und umbetteten. Nachdem sie ihn mit vereinten Kräften in den Sarg gelegt hatten, wackelte sein Kopf noch ein wenig, mit einem schwach lächelnden Gesicht. Gott, was für schöne, volle Lippen er hatte und einen scharf gezeichneten Mund.
Wir hatten zugelassen, daß wildfremde Hände ihn, ohne daß wir dabei waren, wuschen und rasierten, ankleideten und schminkten. Bei diesem ganzen Ritual, das mir auf einmal wie geweiht vorkam, waren wir nicht Zeuge gewesen. So unerträglich es auch war, ich mußte mir vorstellen, wie diese unbekannten Hände sein steifes Bein ein wenig beugten und abknickten, damit es in das Hosenbein ging.
Später, nach der Aufbahrung, würden die Besitzer dieser Hände die Gummihandschuhe abstreifen und in einen miteiner himmelblauen Mülltüte ausgekleideten Abfalleimer werfen, so wie eine Hure sich an ihrem Arbeitsplatz benutzter Kondome entledigt. Nächster Kunde. Neuer Gummi.
Hatten wir am Schwarzen Pfingstsonntag seinen Leichnam nicht zu schnell aus der Hand gegeben?
18
Dank Jonas‘ digitaler Bemühungen hatte das Paradisomädchen inzwischen einen Namen (Jenny) und eine E-Mailadresse. So war sie, in vollständiger Identität, in unser Leben getreten – vorläufig noch unsichtbar. Tonio konnte sie seinen Eltern nicht mehr vorstellen. Jetzt mußten wir wohl Kontakt zu ihr aufnehmen und sie einladen und ihr in Tonios Namen die Fotos übergeben, die er ihr versprochen hatte.
Ein weiteres Problem bestand darin, daß die USB -Sticks und Filmrollen der Session einstweilen unauffindbar waren. Jim und Dennis hatten versprochen, in der Nepveustraat danach zu suchen, wenn sie eine Auswahl aus der Hinterlassenschaft ihres verstorbenen Freundes zusammenstellten.
Einige Tage nach dem Besuch von Dennis schob Mirjam mich vom Flur in Tonios altes Zimmer. Dort stand noch immer ein weißer Reflektorschirm an der Wand. Sie deutete auf eine große Supermarktplastiktüte.
»Ich dachte, da sind alte Videokassetten drin«, sagte sie. »Schau mal rein.«
In der Tüte befanden sich sieben Kameras, überwiegend digitale. Seine Hasselblad war auch dabei.
»Vielleicht«, sagte ich, »wollte er sie ja am Pfingstsonntag abends mit nach Hause nehmen, nachdem er hier gegessen hatte.«
»Ich glaube eher«, sagte Mirjam, »er hat damit gerechnet, daß ich ihm die Tüte im Auto mitbringe, wenn ich nach Pfingsten mit der sauberen Wäsche zu ihm fahre.«
»Nur merkwürdig … die Filmrollen und die Sticks mit den Fotos von diesem Mädchen … von Jenny … die hätte er dann ja über das lange Wochenende dringelassen. Das sieht Tonio nicht ähnlich.«
»Vielleicht sind sie ja gar nicht mehr drin.«
»Auf seinem Arbeitstisch hat Dennis sie nicht gefunden. Es könnte sein, daß Tonio das gesamte Material in ein Fotogeschäft gebracht hatte … um es entwickeln zu lassen.«
»Dann mach doch mal eine von den
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