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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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… Nervosität oder tiefe Bitterkeit … Was mich am häufigsten unversehens überfallen kann, ist ohnmächtige Wut. Ich bin dann böse im Namen von Tonio. Weil er sein Leben nicht zu Ende leben durfte. Weil sein kurzes Daseinim Zeichen von Schulen und Ausbildungen gestanden hat, die nicht mehr abgeschlossen werden. Diese ganze gut eingeleitete Entwicklung … abgeschnitten.«
    »Traust du dich auch manchmal, böse zu sein … nur so, in deinem eigenen Namen?« fragt Mirjam. »Einfach, weil du keinen Sohn mehr hast?«
    »Hin und wieder wage ich mir ein kleines bißchen Selbstmitleid zuzugestehen. Dann jammert ein klägliches Stimmchen in mir. Sieh mich an … fast sechzig Jahre war ich unterwegs, nicht so sehr zu meiner eigenen, sondern zu Tonios Zukunft. Auch ich habe eine Ausbildung absolviert … zum Vater, sicherheitshalber auch zum Großvater. Alles vergebliche Mühe. Vergebliche Anstrengung. Ich spürte an allem, daß Tonio mir zeigen wollte, zu was er fähig ist. Aber ich hätte ihm meinerseits auch gern noch gezeigt, zu was ich fähig bin. ›Bist du schon bei deinen zehn Seiten pro Tag?‹ hat er mich ein paar Tage vor dem Unfall gefragt. Einen Tick spöttisch, das war er seinem Status schuldig, aber sein Interesse hatte auch immer etwas Aufrichtiges. Ich hätte ihm gern eine Wohnung gekauft, um sagen zu können: ›Schau, Tonio, das waren jetzt die zehn Seiten pro Tag.‹ Falls ein Schriftsteller den eigenen Sohn als Muse haben kann, dann ist mir schlichtweg meine Muse genommen worden. Als ich das neulich Mensje schrieb, hat sie sich daran erinnert, daß ich vor langer Zeit im De Pels zu ihr gesagt habe, ich sei verliebt in Tonio. Da war er gerade mal ein Dreikäsehoch.«
22
     
    Auf der Terrasse des Ziegenhofs setzen wir uns an einen Tisch in der Sonne. Unter der runden Überdachung, einer Art kleiner Musikpavillon, ist eine Kinderparty im Gange. Mirjam holt Kaffee und Wasser.
    Plötzlich herrscht Aufruhr auf dem Gelände. Ein junger Mann, ein Ausländer, beschuldigt in nahezu unverständlichem Englisch immer wieder einen älteren Mann, der, unter dem Schirm einer zu jugendlichen Schiffermütze verkrochen, an dem Tisch neben dem unsrigen sitzt. Er reagiert nicht auf das Geschrei, auch nicht als der junge Mann schimpfend näher kommt. Als die Geschäftsführerin sich einschaltet, stellt sich rasch heraus, worum es geht. Der Mann mit der Mütze hat den zweijährigen Sohn des Ausländers hinter einem Huhn herrennen sehen: Möglicherweise versuchte der Kleine, sich auf das Tier zu stürzen. Ich muß wohl tief in Gedanken versunken gewesen sein, denn es ist mir entgangen, daß der ältere Herr aufstand, um das Kind zurechtzuweisen, wobei er es fest packte und (dem Vater zufolge) mit dem Finger ins Auge stach.
    Großes Trara.
    Inzwischen ist die Frau des Herrn mit der Mütze von der Toilette zurückgekehrt. Sie setzt sich zu ihrem Mann. Um den Tisch stehen jetzt die Geschäftsführerin, die Eltern des zweijährigen Jungen, der schreit und dessen eines Auge deutlich stärker gerötet ist als das andere, sowie ein paar Besucher, die sich freiwillig als Zeugen des Dramas anbieten. Ein bärtiger Mann nennt den älteren Herrn »asozial«. Unter der Schirmmütze hervor, die seine Augen verschattet, verteidigt der Alte äußerst arrogant sein Verhalten. Ich spüre, wie eine unbezähmbare Wut in mir aufsteigt, und rufe dem Mann zu, er sei ein Rüpel. Ich reibe ihm sein Rüpeltum immer lauter unter die Nase, obwohl ich kein unmittelbarer Zeuge des Vorfalls war. Mirjam und die Geschäftsführerin ermahnen mich zur Ruhe, doch ich kann meine Tirade nicht stoppen. Eine rasende Wut muß heraus. Der Herr mit der Mütze steht in seiner gespielten Würde auf, rafft seine unter dem Tisch liegenden Hündchen an sich und verläßt erhobenen Hauptes, Gattin am Arm, das Gelände des Ziegenhofs. Erst da beruhige ich mich halbwegs, mit gerade noch unterdrückten Schluchzern der Empörung.
    Der Vater des Zweijährigen bedankt sich bei mir ausführlich – für meine Solidarität, denke ich. Er versucht, den Vorfall für mich zu rekonstruieren, aber wegen seines schlechten Englisch entgeht mir größtenteils, wie er sich zugetragen hat. Ich erzähle ihm wohlweislich nicht, daß meine Solidarität unecht war und ich den unfreundlichen Mützenmann mißbraucht habe, um einer Wut Luft zu machen, die ihren Ursprung ganz woanders hat.
23
     
    Mirjam kommt mit starrer Miene aus dem Ziegenstall. »Ich kann da nicht mehr reingehen, ohne an Tonio

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