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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Kameras auf.«
    Ich traute mich nicht, Laie, der ich war, aus Angst, ich würde etwas kaputtmachen. Oder daß Licht hineinkam.
    »Gut«, sagte Mirjam, »dann fragen wir Jim. Der weiß bestimmt, wie man die Dinger aufmacht.«
19
     
    Äußerlich weine ich wenig. Selten Tränen und Schluchzen und die dazugehörige Mimik. Ich leide an einer Art inwendigen Weinens. Es weint in mir. Beispielsweise liege ich morgens reglos auf dem Rücken im Bett und lausche etwas, das in mir ausgestreckt hemmungslos weint. Ich will dieses weinende Etwas nicht trösten oder beruhigen. Eher möchte ich es ermuntern: Ja, heul nur alles raus, es ist nie genug.
20
     
    Ein willkürlicher Tag, einige Wochen nach Tonios Unfall. Viel zu früh wach. Ich habe mir am Abend zuvor nicht einmal die Mühe gemacht, meine Apnoe-Maske anzulegen, womit ich mir den künstlichen Schlaf der Gerechten versagt habe. Blieb der alkoholisierte Schlaf der Bewußtlosen, grausam unterbrochen durch einen Atemstillstand nach dem anderen.
    Acht Uhr, Vorhänge auf: wieder ein perfekter Sommertag im Anzug. Der blaue Himmel, die milde Morgenkühle,sie machen den Verlust greifbar, durch Händeringen knetbar. Mirjam, schon vor mir auf, kommt mit dem Frühstück.
    »Meine Tage scheinen wie in der Mitte durchgehackt«, sagt sie. »Morgens geht es einigermaßen. Aber nachmittags … nach zwei Uhr wird es schwierig. Und immer schwerer. Am schlimmsten sind immer noch die Abende. Wenn ich meine Pille nicht hätte …«
    »Und nachts … schläfst du noch immer gut?«
    »Ja, aber das kommt wohl von dieser Pille.«
    Wir flüchten schon gegen halb elf in den Amsterdamse Bos. Alles ist Tonio – auch das Auto, in dem er so oft, wenn wir in die Dordogne fuhren, Stunde um Stunde auf der Rückbank gesessen und sich mit seinem Gameboy, seinem Kopfhörer, seinem Stapel alter Donald Ducks vergnügt hatte. Bereits Wochen vor der Abreise war mir ständig schlecht vor Angst: was uns auf der Autobahn zustoßen könnte und vor allem dem kleinen Jungen hintendrin, der unserer Aufmerksamkeit ausgeliefert war. Stieg ich am Abreisetag ins Auto, waren Angst und Übelkeit auf einen Schlag verschwunden. Das lag in erster Linie an Tonio selbst, der so viel aufrichtiges Vertrauen zu seinen Eltern ausstrahlte, daß ich dadurch selbst zu einem unsterblichen Kind wurde, dem nichts passieren konnte, solange Vater und Mutter in der Nähe waren. Goldjunge: Er verzauberte die sorgenbeladene Seite der Welt und machte sie leicht und hell.
21
     
    Natürlich habe ich im Laufe der Jahre oft darüber nachgedacht: was es bedeutet, zu leben, zu atmen, sich zu bewegen. Über das Bewußtsein, das mir eingepflanzt wurde, und zwar ausgerechnet mir. Über das Wunder der Beseelung.
    Doch auch für den unverbesserlichen Grübler gilt, daß er das Leben für gewöhnlich als etwas Vertrautes und Selbstverständliches betrachtet. Man kann nicht über jeden Atemzug nachdenken, denn dann erstickt man.
    Seit Tonios Tod geht mir diese Selbstverständlichkeit meiner Lebensfunktionen ab. Nicht ununterbrochen, doch wenn ich mich bei dem Wohlbehagen »ertappe«, das zu einer Stunde ohne Trauer gehört, setze ich häufig den Schmerz rasch wieder in Kraft. Ich rufe mich zur Ordnung: Schließlich habe ich das Recht verspielt, ein normal funktionierendes Dasein zu führen.
    Was ist das eigene Kind anderes als eine Enklave außerhalb deiner Haut, eine Enklave aus deinem eigenen Fleisch und Blut? Infolge mangelnder Wachsamkeit (andere werden hier von Schicksal sprechen) habe ich zugelassen, daß die Enklave abgestoßen wurde. Ein Teil meiner selbst ist abgeschlagen worden, wie also sollte es mir je wieder gelingen, mich »wohl in meiner Haut« zu fühlen?
    Der Bosbaanweg ist natürlich wieder gesperrt wegen der Ruderregatta. Um zum Ziegenhof zu gelangen, müssen wir den gelben Schildern mit der Zahl 1 folgen, endlos durch die öden Ausläufer von Amstelveen.
    Auf den Straßen liegt üppiges Sonnenlicht, das sich einen Dreck um den Jungen schert, den es nicht mehr wärmen kann. Mirjam redet für den, der die Untertöne nicht kennt, ziemlich munter. Ich bin etwas schweigsamer, voller Groll auf den Sommertag, der nicht dem sonnenhungrigen Tonio gilt.
    »Es ist so merkwürdig«, sagt sie abschließend zu etwas, dem ich nur mit halbem Ohr zugehört habe. »In manchen Momenten fühle ich mich beinahe zufrieden.«
    »Ich kenne das«, sage ich. »Es ist sehr brüchig. Auf einmal ist dann wieder die Angst da oder ein heftiger Stich von Schuldgefühl

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