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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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schlanken Messer einen Umschlag nach dem anderen aufschneidet und lächelnd den Inhalt liest, worauf die Post beiseite geschoben wird. Er sitzt, so hat es den Anschein, fürstlich unter der ausladenden Krone des Goldregens, von dem sich bei jedem Windhauch ein paar vertrocknete Blütenblätter lösen. Die Norwegischen Waldkatzen,schweigende Zeugen der schrecklichsten Ankündigung meines Lebens, umrunden mit erhobenen Puschelschwänzen seine Beine.
    Mirjam, äußerlich ruhig (aber ich weiß, wie nervös sie ist), verkündet, ins Gartenzentrum zu fahren. »Ein paar Pflanzen aussuchen. Dann hab ich was zu tun.«
    Ich gebe ihr die zwanzig Euro von Gert und Marie-Jes. »Für Rosen. Ich schlage vor, du kaufst eine Kletterpflanze davon. Die Laube, unter der Tonio sein Fotomädchen posen ließ … die könnte weniger kahl sein. Unsere Freunde aus Maastricht sind damit bestimmt einverstanden.«
    Als Mirjam fort ist, kehrt das Gefühl extremer Anspannung und Nervosität wieder. Es konzentriert sich in der Magengegend, wo es jeden Appetit nimmt. Es wringt meine Därme aus, die noch regelmäßig gelbes Gift ausstoßen: die Substanz, die mein Todesekel angenommen hat.
    Wenn ich nicht direkt darüber nachdenke, scheint diese spastische Nervosität eher etwas anzukündigen und nicht die Folge des verhängnisvollen Ereignisses zu sein. Als sei ein viel größeres Unheil im Anmarsch. Ja, das ist es: Alles in mir und um mich herum warnt mich. Daß sie Tonio wie einen Hund auf der Straße totgefahren haben, war noch gar nichts. Wart nur, Unglücklicher, das Schlimmste kommt erst noch.
26
     
    Wenn Menschen sehr viel Post zu einem Jubiläum oder einem Todesfall erhalten, bezeichnen sie vor allem die überwältigende Anzahl als »herzerwärmend«. Ich habe die Schiffsladung Briefe und Karten, die uns bisher erreicht hat, nie als Summe mit einem Mehrwert betrachten können.
    Es waren unglaublich liebevolle Briefe darunter, in denen die Ohnmacht, etwas zu sagen, zugegeben wurde, woraufhin sogar die hilflosesten Worte tröstend wirkten. Die meisten Briefschreiber schienen sich darin einig zu sein, daß »der Verlust eines Kindes das Schlimmste ist, was einem passieren kann … das Wahrwerden des schlimmsten Alptraums«. Relativ viele Eltern, denen das gleiche zugestoßen war, schrieben uns, oft völlig Unbekannte.
    Es gab die vorgedruckten, dezenten Karten mit dem Wort BEILEID und lediglich der Unterschrift. Auf einer dieser Karten war das gedruckte Wort MUTTER mit Kugelschreiber durchgestrichen und handschriftlich durch SOHN ersetzt. Auch in Ordnung.
    Ich mußte einsehen, daß Pathos, auf unsere Situation bezogen, nicht falsch klingen konnte. Das galt auch für unsere eigenen Äußerungen. Als ich jemandem schrieb, Mirjam und ich gingen »durch eine eiskalte Hölle des Verlustes und der Trauer«, war das einfach so.
    Es gibt natürlich eine Minderheit, die neugierig am Leid schnüffelt. Melodrama gratis, präsentiert von der Wirklichkeit: unwiderstehlich. Aber auch hier scheint die Sensation rasch an Wirkung zu verlieren, außer für die direkt Betroffenen natürlich.
    Nach den zurückliegenden Wochen zittern meine Finger noch zu stark von dem schlimmen Schlag, um handgeschriebene Briefe mit dem Füller beantworten zu können. Manchmal schreibe ich ein paar Zeilen mit der Hand und erkenne dann meine eigene Schrift kaum wieder, so wacklig ist sie. Jeden Abend einen fast nüchternen Magen reichlich mit Hochprozentigem zu begießen hilft natürlich auch nicht wirklich gegen das Zittern. Ohne den 40prozentigen Schmerzstiller schaffe ich es nicht. Bombay Sapphire hilft mir in die Nacht. Am nächsten Morgen ist der Schmerz wieder da, vermischt mit Ekel, der vorläufig von keinem Schmerzstiller etwas wissen will.
    Unter allen Trauerbezeigungen erreichen uns schon die ersten Haßbezeigungen, die uns in einem Ton oder mit einer Miene à la »Also, so was!« von Menschen zugetragen werden, die Anteil an unserem Schicksal nehmen.
    »Jetzt weiß er doch mal, was das bedeutet«, hat einer dezidiert ausgerufen. »Soll er darüber ein Buch schreiben. Endlich mal was Echtes.«
    Schwer zu fassen, aber wahr: Auch ein unfaßlicher Verlust ist imstande, den Neid der Menschen zu erregen. Diese Grenze haben wir jetzt ebenfalls überschritten. Auserwählte, die ihr Leben mit dem Tod ihres Kindes vergolden.
     
    Die Niederlande sind nun schon seit vielen Jahren eine Christdemokratie. Die »Familie als Eckpfeiler der Gesellschaft« lautet deren Parole.
    Als ich im

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