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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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zu denken, wie er damals war … Er liebte die Tiere hier so sehr. Er konnte ganz lange bei den Ferkeln hocken. Sie rührten ihn.«
    »Sie haben etwas Wehrloses«, sage ich, »wahrscheinlich war es das. Wir wissen erst jetzt, was er in ihnen gesehen hat.«
    »Ich hatte den Eindruck, es sind weniger Ziegen als sonst«, sagt Mirjam. »Ich habe also einen Pfleger gefragt. Und ja, es stimmt. Weniger Ziegen. Infolge der sinkenden Besucherzahlen. Wegen des Q-Fiebers.«
    »Blödes Volk«, sage ich, immer noch bebend vor Wut. »Immer Angst vor den falschen Dingen. Die brauchen in den Nachrichten nur eine Ziege zu sehen, die mit einer Spraydose markiert ist, und schon wissen sie ganz genau, wie der Teufel aussieht.«
    Wir spazieren zurück zum Parkplatz. Wie gewohnt verlassen wir ihn nach links, Richtung Bosbaan. Zwei Radrennfahrer fahren sehr penetrant direkt vor unserer Stoßstange, ohne Anstalten zu machen, auszuweichen. Dann fällt Mirjam wieder ein, daß der Bosbaanweg gesperrt ist, für Rennfahrer ein Glücksfall auf diesem Teilstück. Es ist keine Strafe, noch einmal, in umgekehrter Richtung, unter den sonnengesprenkelten Baumwipfeln durchzufahren – bis der Ekel wieder da ist, denn das hellgrüne Sprießen im Wald, das geht alles einfach weiter, ohne Tonio.
    Wir fahren durch Amstelveen. Ich sage: »Unbegreiflich, daß ich diese nichtssagende Polderfüllung zur Kulisse für einen Roman gemacht habe.«
    »Ich sollte dich doch zu ein paar Schauplätzen fahren«, sagt Mirjam. »Zum Polizeirevier … in die Gegend, wo der Mord passiert … zum Café 1895.«
    »Nicht mehr nötig. Den Roman wird‘s nicht geben. Ich schreibe mein Buch über Tonio, und dann ist Schluß.«
24
     
    Buitenveldert unter einem Regenhimmel, das verleiht dem Stadtteil noch etwas annehmbar Trübseliges. Buitenveldert funkelnd in loderndem Sonnenlicht: eine Hölle der Melancholie. Wir kreuzen die Fred. Roeskestraat, an der der Friedhof mit Tonios Grab liegt. Ich bin seit der Beerdigung nicht mehr dort gewesen. Sosehr ich auch versuche, an andere Dinge zu denken, ich werde gezwungen, mir seinen Leichnam in dem rotbraunen Sarg vorzustellen. Die langsame Auflösung in der kühlen Erde, deren oberste Schollen unter der warmen Sonne der letzten Tage ausgetrocknet sind. Die Kaninchen, die das Biedermeiergesteck längst verputzt haben, hoppeln über das kahle Beet, auf dem bald, gesäumt von einer Steineinfassung, Kies verteilt werden wird. Sein Selbstporträt als Oscar Wilde, das ich in den vergangenen Tagen Dutzenden von Leuten geschickt habe, steht dort in einem wasserdichten Rahmen: Wir wollen das Foto auf irgendeine Weise in den Grabstein einarbeiten lassen (vielleicht altmodisch als emailliertes ovales Porträt).
    »Ach ja«, sagt Mirjam, die meine Gedanken erraten zu haben scheint, »mein Vater will tausendfünfhundert Euro zum Stein beitragen.«
    »Das erinnert mich an etwas … Was hältst du davon, wenn wir den Namen Rotenstreich auch einmeißeln lassen? Ich bin das Tonio schuldig. Schon seit dem sechzehnten Juni 1988.Und deinem Vater auch. Letzte Chance, würde ich sagen. Was meinst du?«
    Sie antwortet nicht. Ich schaue zur Seite. Sie braucht ihre Mundwinkel dringend, um einen Heulkrampf zu unterdrücken. Wir mußten vorige Woche das Auto einmal am Straßenrand anhalten, weil Mirjams Sicht getrübt war.
25
     
    Das philippinische Geschwisterpaar, das jeden Samstag unser Haus saubermacht, hat einen großen Stapel Kondolenzpost auf den kleinen Schrank in der Diele gelegt. Ich setze mich, mit einem Brieföffner bewaffnet, auf die Veranda. Es ist eine Karte von Tonios ehemaligen Gymnasiallehrern dabei, mit einer Strophe von Auden, die auch in der Traueranzeige des Ignatius stand. Das liebe Ehepaar Gert und Marie-Jes aus Maastricht, das mir dreimal die Woche schreibt, hat zwanzig Euro »für Rosen« beigelegt. (»… die goldenen Momente mit Tonio bewahren …« schrieb Gert in einem der vorigen Briefe. In dem Moment, als ich das las, ebenfalls hier auf der Terrasse, fuhr unerwartet ein Windstoß durch den verblühten Goldregen. Eine Wolke graugelber Blütenblätter verteilte sich über den Garten der Nachbarn.) Es gibt schöne Briefe von einem Jugendfreund aus Geldrop, von meiner früheren Lektorin, von ehemaligen Klassenkameraden Tonios. Dutzende. Ich werde sie alle beantworten, notfalls lediglich mit einigen persönlichen Zeilen im Standardbrief. Jeder bekommt das Foto.
    Wer mich hier auf der Veranda antrifft, sieht einen Mann, der mit einem

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