Tonio
mir auf die eine oder andere Weise eine Art Selbsttrost – und falls ich mir das nur weismache, es hat offenbar doch diese Wirkung.
Von Zeit zu Zeit spitze ich die Ohren, weil ich Jubel oder Getöse (Vuvuzelas) im Vorfeld des Spiels Niederlande gegen Dänemark heute nachmittag zu hören glaube. Ich täusche mich: Es ist der normale Stadtlärm.
Später kommt Mirjam in mein Arbeitszimmer, völlig außer sich. Sie hat sich in der Stadt, wo sie weitere Abzüge von Tonios Wilde-Porträt abholen wollte, von den Autos bedroht gefühlt, die, von allen Seiten heranbrausend, wegen des Fußballspiels nach Hause rasten. Sie beschreibt die davon ausgehende Gewalt, und ich glaube ihr, bedauere aber auch ihre schreckhafte Verletzlichkeit, die sie (zum erstenmal) im Stadtverkehr gezeigt hat.
Es wirkt, sosehr ich das Wort auch hasse, wie eine Art Beschäftigungstherapie. Solange ich gewissenhaft die Beileidsbezeigungen beantworte, kann ich die Verzweiflung gerade so eben unterdrücken. Gemogelt werden darf nicht, zum Beispiel indem ich eine nur mit Namen und Adresse versehene Standardtrauerkarte unbeantwortet lasse, denn Tonio liest über meine Schulter mit. Ich muß dies in seinem Namen tun. Es ist meine Pflicht.
Die meisten Menschen haben immerhin so viel Vorstellungskraft, daß sie das, was uns zu Pfingsten widerfahren ist, als »regelrechten Alptraum« begreifen können. Sie verstehen, daß man einen derart würgenden, beklemmenden Traum nicht sofort abschütteln kann, aber sie erwarten anscheinend doch, daß man dessen abscheuliche Atmosphäre irgendwann loswird … daß man versuchen muß, sich von ihr zu befreien …
Die Wirklichkeit ist, daß am 23. Mai der Keim eines Alptraums in uns gesät wurde, der im Laufe der nachfolgenden Wochen zu sprießen begonnen hat. Der Alptraum entfaltet sich, entrollt sich, unvorhersehbar, und wird, wie auch immer, versuchen, uns zu verschlingen oder zu zermalmen. Das Monster wächst wild und dehnt sich blindlings aus.
Während alle die wohlmeinenden Menschen denken, wir hätten diesen Alptraum allmählich unschädlich gemacht, ist der Kampf gegen einen an Umfang ständig zunehmenden Gegner in vollem Gang. Der Ausgang ist ungewiß: Wir bleiben auf der Strecke, oder der Kampf wütet bis ans Ende unserer Tage.
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Gegen fünf gab ich Mirjam den Stapel der kartonierten Umschläge mit den Antworten und den Fotos, damit sie sie zur Post bringt. Wenn das Wetter warm war, und wann war es das nicht, setzte ich mich mit den Nachmittagszeitungen auf die Veranda, wo sie sich kurz darauf zu mir gesellte. Jeden Tag das gleiche Ritual. Wir überflogen die Seiten, kaum interessiert an den Nachrichten, und sehnten uns nach dem Moment, in dem einer von uns das Gespräch eröffnen würde. Neugierig, trotz der Gewißheit über das Thema: Tonio, der Verlust, der Schmerz.
Als erstes bereitete Mirjam die Drinks zu. Für mich einenBombay Sapphire mit Royal Club, für sie einen Kräuterwodka und dazu ein Glas Mineralwasser.
Unsere anfänglich passive Haltung zu dem Verlust hatte wenig erbracht, abgesehen von einer Zunahme des Schmerzes. Abzuwarten, wie sich der Kummer auf die Dauer auf uns auswirken würde, das war nichts für Mirjam und mich. Die Beantwortung der Kondolenzpost machte mich langsam unruhig. Zu oft las ich, daß »das Gefühl des Verlusts im Laufe der Zeit nachlassen« würde.
»Ich will dem Schmerz nicht aus dem Weg gehen«, rief ich eines Abends. »Ich erhebe geradezu Anspruch auf ihn. Eine passive Haltung, das ist nichts für uns. Ich höre mich selbst zu oft über die Blindheit des Schicksals klagen … als müßten wir uns damit abfinden. Daß wir Tonio damit nicht wiederbekommen, beinhaltet nicht automatisch die Verpflichtung, uns nicht gegen ein Schicksal aufzulehnen, das Tomaten auf den Augen hat. Ich will ganz genau wissen, wie es, in all seiner Blindheit, unseren Tonio zu fassen gekriegt hat.«
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Heute, am fünfzehnten Juni 2010, wäre Tonio zweiundzwanzig geworden. Er ist nun sogar seines Geburtstags beraubt. Wir können vom fünfzehnten Juni jetzt nur noch als dem Tag seiner Geburt sprechen und dessen alljährlich gedenken. Merkwürdige Vorstellung, daß dieses Datum, der fünfzehnte Juni 1988, immer weiter in die Vergangenheit taumeln wird, an einen Tonio gekoppelt, der nicht mehr älter werden wird. Sein Leben ist am dreiundzwanzigsten Mai 2010 erstarrt. Sogar in seinem Todesdatum, das künftig treu mit dem Kalender mitreisen wird, steckt mehr Leben als in Tonio
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