Tonio
Mirjam einen ihrer unstillbaren Weinkrämpfe bekam. Flink wie ein Eichhörnchen rutschte Lola über die Couch und an Mirjam empor, um ihrer Mutter zu helfen, die Freundin zu trösten.
32
Ich versuche, Mirjam einen Trostbrief unseres Freundes André zu erklären. Er zitiert Philosophen und Physiker, die Raum und Zeit als illusionäre Begriffe betrachten.
»Jeder ist immer überall«, so schließt sein Brief. Anfangs erhellt sich ihr Gesicht: Jemand hat sich für sie die Mühe gemacht, das Unsagbare in Worte zu fassen. Sie ist dem Briefschreiber dankbar, kann jedoch nichts mit seiner Botschaft anfangen. Dieses »jeder ist immer überall« bringt ihr ihren Sohn nicht zurück. Der Junge bleibt verschollen im Immer Überall.
»Verdammt, Minchen, daß ich dir so wenig Trost bieten kann, das belastet mich sehr. Trost impliziert ein Versprechen: daß eine Situation sich früher oder später bessern wird. Unsere Situation wird sich nie bessern. Nie. Ich kann es dir also auch nicht versprechen. Und … das war‘s mit meinem Trost.«
»Du bietest mir Trost«, sagt sie. »Allein schon wenn du meine Hand hältst, wenn ich weine, das bedeutet schon sehr viel Trost … auch wenn ich Tonio damit nicht wiederbekomme.«
Lieb von ihr, das zu sagen, aber es nimmt mir nicht das Gefühl des Unglücks und der Ohnmacht. Wenn ein alter, kranker Mensch stirbt, können sich die Angehörigen nochmit den Worten trösten: »Es ist besser so. Ihm ist weiteres Leiden erspart geblieben.«
Tonio hatte kein »weiteres Leiden«, das ihm hätte erspart werden können. Er hatte eine große Gier nach dem schönsten Teil seines Lebens entwickelt. Seine letzten Tage, soweit wir sie inzwischen kannten, glichen einem unstillbaren Heißhunger.
33
Als Dennis hier war, erwähnte er ein paarmal den Namen Goscha: das Mädchen, das am Samstagabend mit ihm und Tonio ausgegangen war. Viel hatte er nicht von ihr zu berichten, sie schien eher eine Statistin gewesen zu sein. Er hatte mit Tonio getanzt und ihm »den Dip gegeben«. In seiner Schilderung des Abends und der Nacht tauchte Goscha wie ein Schemen auf. Ein Mädchen, das an ihrem Tisch gewartet hatte, bis die Jungs fertig waren mit Tanzen, und später auf dem Fahrrad mit ihnen bis zum Sarphatipark und ins Viertel De Pijp gefahren war. Dort endete die Spur. Dennis zufolge war sie noch bei ihm im Haus gewesen, in der Govert Flinck, aber auch von dieser Afterparty hatte Dennis keine Einzelheiten berichtet – ja, doch: daß Goscha auf der Stelle eingeschlafen war.
Ein paar Tage nach dem Besuch von Dennis erhielten wir einen Brief, unterschrieben mit: Goscha Bourree. Er war mit dem Füller in einer Erwachsenenhandschrift geschrieben, die nur wenig an die Sauklaue erinnerte, die viele junge Frauen noch Jahre nach ihrer Schulzeit haben.
»Liebe Eltern von Tonio …«
Sie schrieb, sie habe Tonio nicht sehr gut gekannt und sei ihm eigentlich nur ein paarmal begegnet, immer in Gesellschaft »seines guten Freundes Dennis«. Sie erklärte, wie sie sich kennengelernt (Anfang April im Club Trouw in der Wibautstraat) und daß sie sich von Anfang an zu dritt gutverstanden hätten. Mit Tonio habe sie die Liebe zu Katzen und zur Fotografie verbunden. »Wie sich herausstellte, hatten Tonio und ich in der Schule sogar denselben Philosophielehrer gehabt.«
Goscha beschrieb kurz den Abend und die Nacht vom zweiundzwanzigsten auf den dreiundzwanzigsten Mai, als sie zu dritt losgezogen waren, »um die Stadt unsicher zu machen«, und schloß mit: »Ich hoffe, daß Euch dieser Brief hilft. Ich wollte zeigen, was für ein toller Abend es war. Niemand konnte natürlich wissen, daß es für Tonio der letzte sein würde. Ich bin froh, daß ich ihn kennengelernt habe, und traurig, daß es nicht länger gedauert hat. Ich weiß noch genau, was er trug. Zum Glück konnte ich ihm noch sagen, daß er so ein hübsches T-Shirt anhatte.«
34
Punkt fünf klingelte es. Mirjam drückte auf den Türöffner. Goscha entpuppte sich als schmales Mädchen von Tonios Größe, vielleicht etwas kleiner. Sie hatte ein liebes Gesicht mit einem Schatten von Müdigkeit, was zweifellos auf das Konto des Studentenlebens ging. Dunkelblonde Locken. Überwiegend schwarze Kleidung über zitronengelben Leggings. Sie bewegte sich leichtfüßig, aber ungelenk durchs Zimmer zu dem ihr angebotenen Platz auf der Couch: Tonios Stammplatz, auf dem auch Dennis stundenlang gesessen hatte.
Beim Anblick von Tygo und Tasja stiegen Goscha Tränen in die
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