Tonio
September 2005 in den Binnenhof zu einem Mittagessen im Trêvessaal eingeladen war, begrüßten einige Christdemokraten mich überaus herzlich. Der Premierminister stellte mich seinem deutschen Gast (dem Bundesratspräsidenten) als »einer der anständigsten … äh … außerordentlichsten Autoren der Niederlande« vor. Auch wenn sie nie ein Buch lesen, sie wissen, wer du bist. Um vor der ausländischen Delegation einen guten Eindruck zu machen, brauchten sie ein Sammelsurium von Vertretern der niederländischen Kultur. Immer verlangen sie etwas von einem, nie geben sie etwas. Von keinem dieser Eckpfeilerprediger habe ich ein Wort des Mitgefühls erhalten, jetzt, da mein Eckpfeiler durch den Tod ins Wanken geraten ist.
Die Heuchelei der Politik endet nicht beim Tod eines Kindes. Auf die Lüge »Eckpfeiler der Gesellschaft« folgt die Lüge von der »Trauerarbeit«. So wie die Zeugung von Nachkommen uns einst als notwendig hingestellt wurde, so unentbehrlich ist jetzt offenbar, nachdem uns diese Nachkommen genommen wurden, ein guter Verarbeitungsprozeß . Psychologen, Psychiater, Opferhilfe, Selbsthilfebücher, Medikamente, Priester, Paragnosten können uns dabei helfen. Wohlmeinende Ratgeber in unserem Umfeld sagen voraus, der Schmerz über den Verlust werde im Laufe der Zeit nachlassen und könne auf die Dauer sogar »in etwas Positives« umschlagen. Wir, Mirjam und ich, hätten zudem noch einander , was eine gute Trauerarbeit nur beschleunige. (Daß ein geheimer unkontrollierbarer chemischer Prozeß zwischen ihrem und meinem Verlustgefühl stattfindet, was den Schmerz mindestens verdoppelt, berücksichtigt keiner der guten Ratschläge.)
Anstatt beschämt zu schweigen, weil sich die Einflüsterungen über die Notwendigkeit einer Familie als falsch erwiesen haben, streichen die Menschen einfach die entstandenen Falten glatt. »Na komm schon, mein Mädchen, komm, mein Junge – ran an die Arbeit, Zähne zusammengebissen und getrauert, daß die Fetzen fliegen. Wir wissen, wovon wir reden. Zwei, drei Jahre, dann ist das Schlimmste vorbei. Ihr werdet wieder mit einem wehmütigen Lächeln an alles Schöne zurückdenken können, das es doch auch gegeben hat.«
Meine Prognose lautet anders. Der Schmerz über den Verlust wird nicht geringer werden. Bei Mirjam nicht, bei mir nicht. Im Laufe der Jahre, bis zu unserem Tod, wird der Schmerz noch zunehmen, nach einer bizarren Gesetzmäßigkeit, die jetzt, einige Wochen nach Tonios Tod, bereits zu beobachten ist.
27
In vielen Beileidsbezeigungen wurde die Hoffnung geäußert, Mirjam und ich hätten in diesem Prozeß etwas aneinander , was manchmal mit der Warnung einherging, jeder verarbeite seinen beziehungsweise ihren Verlust anders. »Es läuft nicht gleich ab.«
Letzteres stimmte. Mirjam und ich berichteten einander täglich von unseren wirren Empfindungen und widersprüchlichen Gefühlen. Schon beim Frühstück (wie das Gefühl des Verlust sich nachts verhalten hatte), aber vor allem abends, wenn die Blechdeckel von den Gin- und Wodkaflaschen geschraubt wurden. Auch oft zwischendurch, wenn ich dieTrauerpost beantwortete und Mirjam zu mir in den dritten Stock kam, um ihren Tränen kurz mal freien Lauf zu lassen. Mirjam konnte weinen. Als Reaktion darauf spürte ich, wie meine Augen brannten und sich trübten, manchmal sogar die Wimpern feucht wurden, doch bei mir tröpfelte die Trauer in erster Linie nach innen weg, wie ich ihr ein ums andere Mal beschämt versicherte. Bei ihr verschlimmerte sich der Schmerz im Laufe des Nachmittags und Abends. Meiner überfiel mich in unerwarteten Momenten, anfallartig.
Wenn ich wieder einmal einen Tag des Aufbegehrens durchmachte, war sie, wie sich zeigte, im Gegenteil gerade im Begriff, einen ersten, vorsichtigen Ansatz zu Gelassenheit für sich zu formulieren. Danach sah ich wieder irgendwo eine Öffnung. Sie nicht.
Richtig, es lief nicht gleich ab. Was jedoch von Anfang an bei uns fehlte, waren die gegenseitigen Vorwürfe. Wir beschuldigten einander nicht, beim direkten oder indirekten Verhindern des Unfalls versagt zu haben. (Ihr Radfahrunterricht hatte nichts getaugt. Alkoholisiert unterwegs, diese schlechte Angewohnheit hatte er von seinem Vater. Und so weiter. Nichts von alledem.)
Mit einem Freund vom Militär aus der Zeit der »Polizeiaktionen« in Indonesien war mein Vater nach 1949 in Kontakt geblieben. Beide hatten eine Familie gegründet, weshalb sie sich manchmal jahrelang nicht sahen. Als ihre ältesten Kinder
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