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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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erwachsen waren, trafen sich beide Ehepaare zufällig auf der Straße. Wie es so laufe? Mein Vater brüstete sich gern mit den Fortschritten seiner Sprößlinge in der Schule oder an der Universität. Nach einigem Zögern bekannte der Freund, sein ältester Sohn lebe nicht mehr.
    »Ja, selbst Schluß gemacht«, sagte die Frau. Der Junge sei von einem hohen Gebäude gesprungen. »Das hat uns fast unsere Ehe gekostet.«
    Nach dem Selbstmord ihres Sohnes hatten sich die Eheleute gegenseitig die grauenvollsten Vorwürfe gemacht. Inden Augen des einen trug der andere alle Schuld, und umgekehrt. So hatte der Mann, wie die Frau meinte, mit seinen Traumata aus dem ehemaligen Niederländisch-Indien das älteste Kind vergiftet. Sie hatten schon die Scheidung eingereicht. Die Ehe wurde mit Müh und Not gerettet. Beider Leben war für immer zerstört.
    Mirjam und ich sehen keinen Grund, einander Vorwürfe zu machen, und obwohl eine Flut gegenseitiger Beschuldigungen die Trauer vielleicht kanalisieren könnte, fangen wir gar nicht erst damit an. (Die Selbstbezichtigungen sind ein Kapitel für sich.) Womit wir alle Hände voll zu tun haben, ist das Zustopfen eines anderen Lochs. Jahrelang waren wir einander, war uns unsere Liebe genug. Aus dem Reifen dieser Liebe ging Tonio hervor. So entstand eine eingeschworene Dreiermannschaft. Sie mußte einen Sturm abwettern können, und das konnte sie auch, vielleicht weil wir jedesmal rechtzeitig die Leinen dichter holten.
    Nun, da Tonio durch eine Bö des blinden Schicksals aus der festgefügten Dreiermannschaft herausgerissen wurde, klammern nur Mirjam und ich uns noch aneinander. Wir taumeln umher auf schlotternden Knien und tasten, verrückt vor Angst, um uns herum. Nach einer langen, wundersamen Reise durch Tonios sich entwickelndes Leben (dieses spielerisch wogende Labyrinth) sind wir wieder, wie zu Beginn, beieinander: auf uns selbst zurückgeworfen. Wo sollen wir jetzt noch hinsegeln? Tonios Abwesenheit ist ein Fremdkörper zwischen uns.
    Es scheint, daß wir in unseren verzweifelten Gesprächen abends mit dem Ziel, alles von ihm wachzurufen und festzuhalten, die Reise durch sein Leben von neuem machen, mit diesem Requiem als Logbuch. Aber es ist nicht mehr als eine Fahrt ohne Halt durch die Zeit, eine sentimental journey , eine Rekonstruktion, eine leere Wiederholung.
28
     
    Mirjam stellt die Töpfe mit den Grün- und Blühpflanzen aus dem Gartenzentrum auf die Veranda und gießt sie mit dem Schlauch. »Bin gespannt, ob sie‘s diesmal überleben«, sagt sie. »Ich weiß nicht, welche Farbe meine Hände haben, aber grün sind sie jedenfalls nicht.«
    »Und vom Longdrinksmixen«, sage ich, »bekommst du nur kalte Hände.«
    Kurz darauf haben wir eine tückische Mischung aus Campari, Wodka und Mineralwasser vor uns, mit einer Limonenscheibe und viel Eis. »Wir hören auch wieder auf mit dem Trinken«, sagt Mirjam. »Es schmeckt noch nicht mal, weißt du?«
    »Bitter«, bestätige ich. »Es ist Medizin. Das Pulver vom Weißen Kreuz früher, in einem Glas Wasser aufgelöst, das schmeckte genauso.«
    Trotzdem findet der Alkohol seinen Weg, Glas um Glas. Ich erzähle Mirjam von der ungeheuren Nervosität, unter der ich noch immer über weite Strecken des Tages leide. »Als ob jeden Moment ein Sonderkommando der Polizei auftauchen kann, das mich festnimmt.«
    Wir trinken. Eiswürfel, die klirrend ins fast leere Glas zurückgleiten. Der Campari macht unter dem Goldregen Geishas aus uns: rot gefärbte Lippen in einem weißen Gesicht.
    »Es gibt noch einen anderen Aspekt«, sage ich. »Diese Nervosität, von der ich gerade sprach … die ähnelt dem ständigen Unter-Strom-Stehen bei jemandem, der verzweifelt verliebt ist.«
    »Boh«, sagt Mirjam, »daß du das noch so genau weißt.«
    »Man könnte fast meinen, es gibt eine unwillkommene Verwandtschaft zwischen beidem … ich meine, zwischen dem Trauern wegen eines Verlustes und einer aussichtslosen Verliebtheit.«
    »Dann aber eine sehr entfernte Verwandtschaft«, sagtMirjam, der das Thema nicht gefällt. »Eine Verliebtheit kann noch so grausam unerwidert bleiben, man kommt irgendwann darüber weg. Oder? Wir haben nichts, über das wir hinwegkommen können. Über Tonio kommt man nicht hinweg.«
29
     
    Montag, 14. Juni 2010 . Ich sitze vor der offenen Balkontür in meinem Arbeitszimmer und versuche wieder, möglichst viel Kondolenzpost zu beantworten. Ich danke in unsicherer Handschrift für tröstende Worte, und diese Handlung verschafft

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