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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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selbst.
    Er ist so endgültig in seinem Tod versteinert, daß wir uns trotz unseres trainierten Einbildungsvermögens keine Vorstellung von seiner Entwicklung nach dem Pfingstsonntag 2010 machen können. Es ist besser, stets von neuem zu seinem Leben zurückzukehren, wie wir es gekannt haben, und daraus immer mehr halb vergessene und unerforschte Momente zutage zu fördern. Zunächst haben wir seine einundzwanzig Geburtstage, an die wir zurückdenken und die wir noch einmal erleben können.
    Solange Tonio da war, terrorisierte mich mein reales Alter überhaupt nicht. Er hatte die Jugend, und davon profitierte ich. Solange ich mich mit ihm über die Ereignisse in der Welt austauschen konnte, fühlte ich mich auf eine selbstverständliche Weise jung oder, besser gesagt: alterslos.
    Als ich diesen Gedanken vor zwei, drei Jahren einer Interviewerin gegenüber ausspann und sie nachfragte, wie alt ich mich denn dann mit sechsundfünfzig fühlte, antwortete ich ehrlich: »Also, ungefähr zweiunddreißig.«
    Das erzeugte böses Blut. Für wen ich mich denn hielte. Eines Nachmittags, in meiner Stammkneipe, ich plauderte gerade mit einem Freund, kam ein gewisser Laurens auf mich zu. Der Mann hatte mich schon öfter mit seiner Geringschätzung überschüttet. Er sah mich haßerfüllt an und sagte: »Zweiunddreißig, was?« Er nickte feixend und wiederholte noch einmal, bevor er durch den Vorhang vor der Tür verschwand: »Zweiunddreißig …«
    Etwas war an diesem Laurens anders als sonst. Er wirkte müde, die Augen erloschen, und zeigte sich sogar in seiner herablassenden Ablehnung weniger streitbar als gewohnt. Vielleicht glaubte Laurens einen Grund für seinen Hohn zu haben. Vor langer Zeit hatte er die Tasche von Joop den Uyl tragen dürfen, einem Politiker, dem ich vor gar nicht so langer Zeit in Het Parool vorgeworfen hatte, er sei ein kulturloser Kahlschläger mit seinen Plänen für eine vierspurige Straße mitten durch das alte Amsterdam. In Joops Tasche lag eine Kleiderbürste, mit der Laurens als vorbildlicher Paladin den Uyl diskret die Schuppen von den Schultern bürstete.
    Einen Tag später erreichte uns in derselben Kneipe die Nachricht, Laurens habe mitten auf dem Dam einen Herzstillstand erlitten. Der Rettungshubschrauber hatte auf dem belebten Platz nicht landen können, wodurch kostbare Zeit verlorengegangen war. Laurens hatte es nicht geschafft. Für die, die gern mißverstehen: Selbst wenn sie meinen selbsterklärten Feinden zustoßen, schenken solche Ereignisse mir nicht die geringste Befriedigung, und vielleicht muß ich ihm seine Geringschätzung verzeihen: Es kann sein, daß er sich schon nicht wohl fühlte in dem Moment, als er mein gefühltes Alter mit ungläubigem Hohn wiederholte. Ich schließe nicht aus, daß er mich warnen wollte. Sag als Mittfünfziger nicht zu schnell, daß du dich wie zweiunddreißig fühlst.
    Ich habe ganz aus der Nähe gesehen, wie Tonio starb. Mein eigener Sohn, den ich auch aus wenigen Metern Entfernung habe zur Welt kommen sehen. Ist der Tod dadurch für mich zu einem weniger großen Mysterium geworden? Nein. Ich habe beobachtet, wie leicht es ist zu sterben, doch damit ist das Mysterium nicht aus der Welt. Im Gegenteil. Die Leichtigkeit, mit der er starb, hat das Mysterium sogar vergrößert. Ich bin empfänglicher für den Tod geworden. Ich weiß, daß ich mich, wenn meine Zeit gekommen ist, weniger dagegen auflehnen werde. Die Leichtigkeit gilt auch für mich.
    Und außerdem, für ihn brauche ich nicht unbedingt länger am Leben zu bleiben. Er ist mir vorangegangen. Was hindert mich. (Mirjam, die hindert mich daran.)
     
    Die elfjährige Lola spielt in einem Theaterstück, einer Adaption von Shakespeares Sommernachtstraum . Mirjam geht mit Lolas Mutter Josje zur Premiere.
    »Da saß ich«, sagte sie später, »zwischen all den stolzen Müttern. Auf einmal hab ich mein Alter gespürt. Fünfzig. Nicht weil die meisten Eltern mindestens zehn Jahre jünger waren, sondern … ich saß da als kinderlose Mutter. Alles, was ich da sah, dieser Stolz, diese Hingabe, das hatte ich selbst auch empfunden. Und wozu hat es geführt?«
    Nach der Premiere durfte sich Lola in Mirjams Vitrine eine venezianische Maske aussuchen. Sie nahm eine aus der Commedia dell‘arte. Das Mädchen traf schüchtern seine Wahl, sich der Traurigkeit in diesem Haus sehr bewußt, in dem sie als Kind immer Tonio in seinem Zimmer besuchte.
    Kurz vor der Premiere hatte sie uns mit ihrer Mutter besucht, als

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