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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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dieser Beschränkung leid. Doch Goscha, die vielleicht dachte, wir bäten sie nur aus Höflichkeit, noch etwas zu bleiben, war unerbittlich – uns und sich selbst gegenüber.
    Auf dem Weg zur Haustür zeigte Mirjam ihr noch die kleine Fotogalerie von Tonio auf dem Flur. Ich hörte die beiden Frauen lebhaft reden, konnte sie aber nicht verstehen. Ich sann auf eine Möglichkeit, Goscha ins Zimmer zurückzuholen. Bis auf vier flüchtige Zuschauer (der Fahrer, der ihn anfuhr, dessen Beifahrer sowie die beiden Zeugen des Unfalls) waren Goscha und Dennis die letzten, die Tonio lebend gesehen hatten, viele Stunden lang, einen halben Tag. Von diesen beiden hatte Goscha detaillierter über Tonio geredet. Sie hatte ihn blutwarm zu uns rübergebracht. Wir hatten sie noch längst nicht ausreichend befragt. Wir mußten sie zum Erzählen bringen, bis wir, mit ihrer Hilfe, das letzte bißchen Wärme aus unserem Jungen aufgebraucht hatten.
    Goscha kam noch kurz herein, um mir die Hand zu geben, ungelenk und verlegen-bewegt. Von meinem Platz aus waren es für sie lediglich wenige kurze Schritte bis zur Wohnzimmertür. Trotzdem drehte sie sich, mit feuchten Augen, noch dreimal um, um sich nachdrücklich von mir zu verabschieden.
    »So ein liebes Mädchen … fandst du nicht?« sagte Mirjam, als sie wieder oben war. »Und daß sie sich so genau an die vereinbarte Zeit gehalten hat. Wenn man solche Kinder erlebt, bekommt man fast wieder Vertrauen in die Welt.«
    Sie ging in die Küche, um unsere Gläser zu füllen. Ich hatte sie im Verdacht, an diesem Abend heimlich die doppelte Menge Gin und Wodka in das Tonic beziehungsweise den Orangensaft zu tun. Als sie wieder neben mir saß, war es um ihre Beherrschung geschehen. »Dieser Schmerz … dieser Schmerz.«
    Und später, wieder etwas ruhiger: »Wenn du Erinnerungen an Tonio ausgraben willst … tu‘s nur, egal, wie schmerzlich sie sind … du brauchst keine Rücksicht auf meinen Kummer zu nehmen.«
39
     
    Wir schleppen uns schwerfällig und träge durch den Sommer, als befänden wir uns seit Pfingsten in einer anderen Atmosphäre, die unsere natürlichen Bewegungen bremst. Zugleich ist da diese ständige Gehetztheit, voll der schwärzesten Erwartungen: als stünde das Schlimmste noch bevor . Das beginnt zum Refrain dieses Requiems zu werden.
    Es sind keine unbegründeten Erwartungen, denn das Schlimmste, das Allerschlimmste steht uns tatsächlich noch bevor. Nicht ein Ereignis, schlimmer als Tonios Sterben, sondern: daß sein Tod in seinem ganzen Ausmaß zu uns durchdringt.
    Es ist die Angst vor dem Schmerz einer endgültigen Lösung, über die Mirjam Abend für Abend spricht. Die Furcht vor einer Zukunft, die keinen Frieden bringt, kein Hinnehmen, kein Sich-Fügen, keine Antwort auf den Schmerz. Eine Zukunft, die den Verlust zu nur noch größerer, erbarmungsloserer Klarheit kneten und hauen wird.
40
     
    Einem Freund versuchte ich zu erklären, in welchen Tornado der Emotionen wir durch Tonios Tod geraten waren.
    »Ich nenne nur ein paar. Sie stellen sich in willkürlicher Reihenfolge ein, wobei sie sich am liebsten auf unvorhersehbare Weise überlappen. Alle gleichzeitig oder rasend schnell nacheinander, auch das gibt es. Bei Mirjam ist es natürlich wieder ganz anders.«
    An erster Stelle war da, selten abwesend, dieses Gefühl der GEHETZTHEIT . Es ging oft einher mit einem fahrigen Atem und einer ebensolchen Motorik, mit der Folge, daß man sich verhielt, als ob man noch etwas retten könne (aber was?).
    Eine Variante dazu: große NERVOSITÄT , vergleichbar lähmender Prüfungsangst oder Unsicherheit bei heftiger Verliebtheit. Ein Empfinden, als wäre Tonios Tod erst die Ankündigung eines noch ernsteren Unheils.
    Der SCHMERZ , der, abwechselnd eiskalt und glühendheiß, wie ein Sturm über die Ebene des Herzens raste. Manchmal legte er sich kurz, um dann um so schneidender wieder aufzuflammen. (Wie Mirjam es neulich ausdrückte: »Genau dann, wenn man denkt, daß man sich ziemlich stabil fühlt und wieder zu atmen wagt, ist der Schmerz auf einmal wieder da. So unfair.«)
    AUFLEHNUNG . Gegen wen oder was, solange es keine Instanz gab, bei der man sich beschweren konnte? Zumindest gegen die brutale Wahrheit, daß Tonio hier nie mehr, verlegen grinsend, hereinspazieren würde. Ohne würdigen Gegner schlug Auflehnung nach innen, wo sie in der Seele Verwüstungen anrichtete anstatt im öffentlich zugänglichen Bereich.
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    Und dann das SCHULDGEFÜHL , das sich in rational und

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