Tonio
ich so gern tun würde, aber nie tue. Zum Beispiel fotografieren. Wenn man eine Weile raus ist, wird die Angst immer größer, wieder damit anzufangen. Tonio hat mir diese Angst ausgeredet. Und was glaubt ihr? Nach Pfingsten habe ich wieder mit dem Fotografieren angefangen. Tonio war wirklich ein unheimlich netter Junge. So aufmerksam. Er konnte phantastisch zuhören.«
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»Das hatte er von mir«, sagte ich. »Als ich in seinem Alter war, hieß es auch immer über mich, ich könne so gut zuhören. Aber manche hat das auch mißtrauisch gemacht. Die dachten, daß ich mit dieser Aufmerksamkeit was im Schilde führe. Daß ich was ganz Übles mit ihnen vorhabe. Mein williges Ohr hat sie nervös gemacht.« (Sofort fühlte ich mich wie eine verlogene Ratte. Sommer ‘93: Ich sah mich mit dem fünfjährigen Tonio durch Pernes-les-Fontaines gehen – jeden Tag dieselbe Strecke zum Restaurant am Innenhof eines alten Hotels. Er redete in seinen schönen, melodischen Sätzen ununterbrochen auf mich ein. Bis er entdeckte, daß ich ihm nicht immer zuhörte. »Adri, du hörst nicht zu.« Mit stockender Stimme: »Du mußt mir schon zuhören , weißt du. Sonst … sonst …« Nie wiedergutzumachen.)
»Also, bei Tonio war es ehrlich«, sagte Goscha. »Dafür leg ich die Hand ins Feuer.«
»Noch mal zurück zum Trouw«, sagte Mirjam. »Ist da viel getrunken worden?«
»Die ganzen Runden«, sagte Goscha, »das ging alles soschnell. Da kam man kaum mit. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn Tonio hat das meiste bezahlt.«
»Nicht getanzt an dem Abend?« fragte ich.
»Kaum. Die hatten Scheißmusik aufgelegt. Ja, ich erinnere mich irgendwie schwach, daß wir kurz zu dritt auf der Tanzfläche gestanden haben. Da hat Dennis Tonio ‘nen Dip gegeben. Weil die Musik nix war, sind wir früher als sonst gegangen.«
»Um wieviel Uhr?« fragte ich. (Ich war schon wieder dabei, die Zeit aufzudröseln.)
»So gegen vier. Draußen vor dem Trouw haben wir noch eine Weile auf einer Bank gesessen. Um auszulüften. Ich hatte, glaube ich, ganz schön einen sitzen.«
»Wenn ihr um vier rausgegangen seid«, sagte ich, »dann könnt ihr nicht allzu lang auf der Bank gesessen haben. Der Zeitpunkt, an dem Tonio angefahren wurde, rückte sozusagen näher.«
»Wir sind zum Sarphatipark gefahren. Die Ceintuurbaan lang. Da, an der Ecke, sind wir kurz stehengeblieben und haben geredet. Dennis wollte, daß wir beide mit zu ihm kommen. Tonio sagte nein. Er wollte nach Hause. Schlafen … oder, nein, sein Freund Jim hat noch auf ihn gewartet, glaube ich. Haben die beiden Jungs das öfter gemacht, so spät noch Filme gucken? Tonio ließ nie jemanden hängen, also … Normalerweise wäre ich mit ihm zurückgefahren. Wir haben in De Baarsjes nahe beieinander gewohnt. Aber ich war so müde und … ja, ich glaube, ich war auch ganz schön betrunken. Dennis und Tonio nicht so …«
»Wir Frauen«, sagte Mirjam, »haben nun mal eine kleinere Leber.«
»Ich war im Zwiespalt«, sagte Goscha. »Ich hatte nicht so viel Lust, nachher den ganzen Weg allein zurückzufahren. Für Tonio wäre es auch netter gewesen, wenn ich …«
Sie schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. »Netter, was für ein Wort. Dann wäre dieses Schrecklichevielleicht gar nicht passiert. Dann hätte alles anders laufen können. Kleine Entscheidungen können solche großen Folgen haben …«
Ich fragte sie einiges, das ich auch Dennis gefragt hatte. Ob Tonio nach dem Abschied in Schlangenlinien davongefahren wäre.
»Nein, das wäre mir aufgefallen. Ja, wir hatten getrunken, nicht gerade wenig. Aber er ist ganz normal losgefahren.« Goscha kniff die Augen fest zusammen. »Ich sehe ihn … ich sehe ihn von uns wegradeln. Mein letztes Bild von ihm. Er fährt vom Gehweg runter. Direkt auf die Ceintuurbaan.«
»Wenn du mit Tonio mitgefahren wärst, Goscha«, fragte ich, »welchen Weg hättet ihr dann genommen?«
»Na ja, ganz normal.« Goscha öffnete die Augen wieder. »Ceintuurbaan. Van Baerle. Auf dem Overtoom nach links, Richtung De Baarsjes. Immer dieselbe Strecke.«
»Wie kam Tonio dann«, so Mirjam, »zur Ecke Hobbemastraat/Stadhouderskade?«
Ich hatte den Eindruck, daß diese Frage neu für sie war: daß sie sich die noch nicht gestellt hatte. Sie blickte leicht nervös von Mirjam zu mir und von mir wieder zu Mirjam. »Keine Ahnung.«
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Goscha hatte erklärt, sie habe sich davor gegrault, nach dem Besuch bei Dennis, für ein letztes Glas, die ganze Strecke allein
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