Tonio
ein abstraktes Nachbild: kurz ein schwarzer Strudel, vielleicht aus Ekel, den die sich immer weiter hervorstreckende grellgelbe Zunge einer Stimme zu durchbrechen versucht.
Nur an Mirjams Reaktion, aus großer Ferne, erinnere ich mich Wort für Wort – zumindest stellt sich beim Nachfragen heraus, daß sie stimmen.
»Macht nichts … schrei nur, Kleiner. Das kann nicht schaden.«
7
»Wie?« fragte Mirjam.
»Raus«, sagte ich. »Nicht länger zu Hause rumsitzen, bis jemand kommt und etwas berichtet. Raus und los. Ich will mit der Polizei sprechen … die Akte einsehen … den Bericht des AMC . Ich will Tonios Fahrrad sehen. Die Stelle, wo es passiert ist … vielleicht sind die gelben Striche noch nicht ganz verschwunden. Ich weiß nicht, ob du das auch kennst. Man hat einen kranken Zahn, der ein bißchen locker ist. Bei der leisesten Berührung, zum Beispiel mit der Zunge, jagen einem wahnsinnige Schmerzen durch den Kiefer. Früher oder später hat man das Bedürfnis, den Schmerz zu provozieren. Man beißt ganz fest auf den Zahn … und wird belohnt. Also, so gehe ich ab jetzt mit meinem Kummer um. Ich werde ihn provozieren … ihn zu mir locken.«
»Und meine Pillen … meinst du, ich sollte damit aufhören?«
»Nein, der Schmerz kriegt dich doch zu fassen. Die Frage ist: Verkraftest du es … willst du mehr über den Unfall und alles Drumherum wissen?«
»Ich schließe mich dir an.«
»Gut, dann hocken wir nicht länger miesepetrig hinter geschlossenen Vorhängen herum, sondern setzen draußen unsere Rekonstruktion fort. Wir spielen einfach Aktenzeichen XY … ungelöst. Wir wissen jetzt, wo Tonio seine letzten Stunden verbracht hat … woher er kam, als er verunglückte. Den Rest bekommen wir auch noch heraus. Ich mache einen Termin mit dieser Unfallabteilung in der James Wattstraat aus. Wenn du die Fotos von Jenny auftreibst … dann können wir sie auch mal befragen.«
»Ich rufe Klaas noch mal an«, sagte Mirjam. »Die Sticks, die Filmrollen … die können doch nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein.«
Trauerarbeit – wir strichen den Begriff aus unserem Wörterbuch. Jedes Verarbeiten, und sei es nur der Ansatz dazu, entfernte uns von Tonio und war somit tabu. Wir ließen den Nerv frei liegen und erzwangen so den Schmerz, der uns mit Tonio verband. Auch das war eine Form von Trauer, allerdings eine, die sich nicht dem Verblassen aussetzt – sondern eine, die sich unaufhörlich erneuerte und verstärkte.
8
»Wenn du sowieso in der Nepveu bist«, sagte ich zu Mirjam, »dann schau doch auch mal, ob du Tonios Uhr irgendwo siehst.«
Sie fuhr mit Fotograf Klaas nach De Baarsjes, um dort die Sticks und Filmrollen mit den Fotos von Jenny zu suchen. Viel Hoffnung bestand nicht, denn sowohl Jim als auch Dennis hatten uns bereits gesagt, daß sie beim Aufräumen von Tonios Arbeitstisch, eine Woche nach seinem Tod, nichts dergleichen entdeckt hätten. Blieb die geringe Chance, daß sich in Tonios Computer etwas befand.
Mirjam kam betrübt nach Hause. Von Jennys Porträts keine Spur. Nicht einmal die Polaroids, die Tonio mir nach der Session gezeigt hatte, waren irgendwo in der Wohnung zu finden. Tonios »Blutskumpel« Jim hatte sich nicht sehr kooperativ gezeigt.
»Diese Polaroids«, sagte ich, »vielleicht trug er die bei sich. Dann liegen sie bei seinen Sachen in der James Wattstraat. Wir müssen uns mit den Leuten da nicht nur zum Gespräch verabreden, sondern auch um alles abzuholen, was Tonio gehört hat.«
»Hoffentlich ist die Uhr auch dabei«, sagte Mirjam niedergeschlagen. »In der Nepveu habe ich sie nicht gesehen.«
»Und die kleine Katze … wie ging‘s der?«
»Ich hab mich nicht mal getraut, sie anzufassen. Sie schlichscheu davon. Stell dir vor, ihr Fell hätte statisch aufgeladen geknistert … dann wären das vielleicht Tonios Funken gewesen. Das Produkt seines letzten Streichelns.«
9
Mit fünfzehn begann er zu fotografieren – keine Schnappschüsse, sondern ungewöhnliche Situationen und von anderen unbemerkte Perspektiven, wobei er ein natürliches Gefühl für Komposition an den Tag legte. Mir fiel auf, daß er eine Vorliebe für teure Kameras entwickelte. Das Objektiv, mit dem er dem Mysterium der sichtbaren Welt am nächsten kommen zu können glaubte, war zufällig auch immer das kostspieligste.
In der vierten Klasse flog er mit einer Gruppe von Schülern und Lehrern vom Ignatius nach Griechenland, um die Reste der antiken Kultur zu studieren. Tonio witterte
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