Tonio
verlaufenen Abend und wollte wissen, wie das zu einer Anzeige wegen Mißhandlung hatte führen können. Er zitierte aus dem Protokoll: daß auf dem Rücken des Kanadiers am nächsten Morgen, beim Duschen, Blutergüsse festgestellt worden waren, worauf dieser doch noch beschloß, eine Anzeige wegen Tätlichkeit zu erstatten.
»Steht da nichts«, fragte ich den Polizisten, »von einem Kater, und daß der auch auf mein Konto geht? Ich meine, nach den ganzen Runden … ich kann ja eine Alkoholvergiftung des kanadischen Touristen im Sinn gehabt haben.«
»Wenn ich Ihre Wiedergabe des Vorfalls so höre«, sagte der Polizist, »dann hat die Anzeige wenig Chancen. Mein Kollege hat Ihre Aussage inzwischen im Computer. Ich denke, Sie können davon ausgehen, daß Sie von dieser Sache nichts mehr hören.«
Trotzdem flatterte mir einige Wochen später, als ich den Vorfall schon wieder vergessen hatte, eine Zahlungsaufforderung in Höhe von dreihundertfünfzig Gulden in den Briefkasten. Für diesen Betrag könne ich mich von der Strafverfolgung wegen Tätlichkeit freikaufen. Weil ich keine Lust auf diesen ganzen idiotischen Rechtsstreit hatte, war ichauch noch so feige zu bezahlen – was ich heute auf keinen Fall mehr tun würde.
Jetzt war ich also zum dritten Mal hier, auf der Wache am Koninginneweg, diesmal um zu erfahren, wie genau mein Sohn verunglückt war.
Von dieser Polizeidienststelle aus war am strahlenden Pfingstsonntagmorgen ein Minibus mit zwei jungen Beamten Richtung Johannes Verhulststraat losgefahren. Die Frau hatte mir später eine Kondolenzkarte geschickt: daß sie es so schrecklich gefunden habe, uns eine Nachricht zu überbringen, die möglicherweise unser ganzes Leben verändern würde. Es sei der schwierigste Moment in ihrer noch jungen Laufbahn gewesen, schrieb sie.
12
Der Mann vom Empfang kehrte hinter seinen Tresen zurück. Ein anderer Mitarbeiter führte uns über kahle Treppen und an kahlen Wänden vorbei zu einem Zimmer ganz oben im Gebäude, möglicherweise dem Dachboden, auf dem früher das Heu für die Kutschpferde gelagert hatte. Wir wurden mit den Polizeibeamten Hendriks und Windig von der Abteilung Schwere Verkehrsunfälle aus der James Wattstraat bekannt gemacht.
Der Beamte, der uns hierher geführt hatte, bot uns etwas zu trinken an. Mirjam und ich baten um ein Glas Wasser, die beiden Kollegen von der Abwicklungsabteilung erhielten Kaffee. Auf dem niedrigen Tisch stand eine große Schale mit Butterkeksen in verschiedener Form, eine Auswahl, die beim Konditor »gemischt« heißt. Mirjam und ich nahmen uns nichts davon. Vielleicht aus diesem Grund rührten auch die Polizisten die Schale nicht an, obwohl jeder weiß, wie köstlich ein Butterkeks zum Kaffee schmeckt.
Der Beamte Hendriks, vier Streifen auf jeder Schulter, ergriff das Wort. Er fragte, ob wir Fragen hätten. Ich sah Mirjam an, die mit schimmernden Augen fast unmerklich nickte, zum Zeichen, daß ich beginnen könne.
»Das Auto, das Tonio erfaßt hat …« begann ich, »gab es irgendwelche Hinweise darauf, daß es zu schnell fuhr?«
»Nein, das wird noch untersucht«, sagte Hendriks zögernd. »Der Fahrer wurde nach dem Unfall hierher zur Vernehmung gebracht. Er hat kurze Zeit in einer Arrestzelle gesessen. Ich hatte zufällig in dieser Nacht Dienst und bin sofort zum Koninginneweg gefahren. Zusammen mit einem Kollegen habe ich ihn vernommen. Er hatte da bereits einen Alkoholtest gemacht, aus dem hervorging, daß er nichts getrunken hatte. Der Mann kam von der Arbeit. Irgendwas im Hotel- und Gaststättengewerbe. Er war sehr mitgenommen von dem Unfall, und als er am nächsten Tag hörte, daß es tödlich … also, Sie können mir glauben, er war völlig fertig.«
»Zurück zur Vernehmung«, sagte ich. »Hat der Mann abgestritten, zu schnell gefahren zu sein?«
»Felsenfest abgestritten nicht«, sagte Hendriks. »Seiner Aussage nach hatte er die erlaubte Geschwindigkeit. Das wurde vom Beifahrer bestätigt. So jemanden nennen wir einen ›geimpften‹ Zeugen, da möglicherweise Parteilichkeit im Spiel ist. Es gibt weitere Zeugen. Einen Fußgänger und einen Taxifahrer. Sie haben sofort … also noch in derselben Nacht … eine Aussage gemacht und werden erneut vernommen.«
»Kann eine technische Untersuchung noch etwas bringen?« fragte ich. Die Kekse dufteten immer stärker. »Sie haben mich selbst am Telefon vor den möglicherweise belastenden gelben Streifen auf der Fahrbahn gewarnt … also nehme ich an …«
»Aber
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