Tonio
Tonio gefilmt wurde. Er war zwei. Wir wohnten, gerade zurück in der Stadt aus dem verfluchten Ort Loenen, an der Leidsegracht. Im Wohnzimmer wurde ich von einem Team des flämischen Fernsehens interviewt. Das eigentliche Gespräch hatte noch nicht begonnen, es wurde noch beratschlagt. Tonio saß neben mir auf dem Sofa, dem Anschein nach nur an seiner Flasche warmer Schokomilch interessiert, an der er rosig und zufrieden grunzend saugte. Gleich nachdem das Zeichen »Kamera ab!« gegeben worden war und diese zu surren begann (zu der Zeit surrten Kameras noch), richtete sich Tonio theatralisch auf dem Sofa auf. Seinen sitzenden Vater weitgehend dem Kameraauge entziehend, warf er frivol seine Locken zurück, die Flasche dabei fast senkrecht mit den Lippen festhaltend – eine Filmrolle, die er sich ganz allein ausgedacht hatte.
Mit den Bildern des Holland Casino war auch seine Karriere als spontaner Schauspieler zu Ende.
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In meiner Vorstellung hatte ich Tonio so oft halsbrecherisch schnell die Brücke beim Max Euweplein hinunterfahren sehen, geradewegs auf sein Schicksal zu, daß ich mich von dem Bild, so grauenhaft es auch war, nur schwer verabschiedenkonnte. Noch schwerer war es, sich an eine neue Lageskizze gewöhnen zu müssen, und sei es nur, weil sie der Wahrheit eher entsprach.
Tonio kam nicht aus dem Paradiso, nicht von Jenny und war nicht die Brücke hinuntergefahren zum Eingang des gegenüber gelegenen Vondelparks. Er verunglückte bei den Ampeln eine ganze Kurve weiter, als er aus der entgegengesetzten Richtung kam: aus Richtung Amsterdam-Zuid, aus der Hobbemastraat, vom Club Trouw.
Auch das Bild eines protzigen BMW mit undurchsichtigen Rauchglasscheiben ließ sich in meiner Vorstellung nur schwer durch das eines veredelten Einkaufswägelchens wie eines Suzuki Swift ersetzen. Durch die unzähligen Fernsehwiederholungen des Anschlags, der damit auf den offenen Bus der Königin geplant worden war, war der Suzuki Swift (schwarze Ausführung) zu einer Ikone geworden. Immer wieder dieses schäbige kleine Auto, das mit seinen zerborstenen Fensterscheiben wie in Spinnweben verpackt schien und mit seiner halb abgerissenen Motorhaube wie eine flügellahme Krähe flatterte. So bohrte es sich, blind, ins augenlose Mahnmal »Die Nadel«.
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Daß Tonio uns genommen worden war, der Junge, den wir so gut beschützt zu haben glaubten, stellte das an sich nicht schon den Beweis dafür dar, daß die Welt aus einem lebensgefährlichen Chaosstrudel bestand?
Er starb mitten in einer der Städte der westlichen Zivilisation, in einer Nacht mit wenig Verkehr, umgeben von Zeichen, die dazu dienen, das Durcheinander in geordnete Bahnen zu lenken: Pfeile und Zebrastreifen auf dem Asphalt, Verkehrsschilder, blinkende Ampeln, Geschwindigkeitsbeschränkungen. Nachdem Tonio wie ein die Straße überquerendes Stück Wild auf dem Asphalt angefahren worden war, kehrte diequasi-organisierte Welt sofort wieder zu ihrem alten Lauf zurück.
Ich deutete auf die Verkehrsampeln. »Soviel ich weiß, sind die nachts ausgeschaltet. Ist das eine Sparmaßnahme?«
»Nein«, sagte Hendriks, »mit Einsparungen hat das nichts zu tun. Aber alles mit Sicherheit. Nachts kann es an manchen Kreuzungen gefährlicher sein, die Ampeln in Betrieb zu lassen. Der wartende Radfahrer wird ungeduldig, fragt sich, warum er in einer so ruhigen Nacht eigentlich Grün braucht, und … fährt bei Rot los. Und siehe, da kommt unerwartet ein Auto, das die Geschwindigkeit erhöht, um es noch bei Gelb über die Kreuzung zu schaffen. Nein, glauben Sie mir, das sind wohlüberlegte Maßnahmen.«
»Waren die Ampeln in dieser Nacht ganz ausgeschaltet«, fragte Mirjam, von uns beiden diejenige mit dem Führerschein, »oder blinkten sie?«
Die beiden Polizisten sahen sich an. »Das wissen wir nicht«, sagte Windig. »Naheliegend wäre, daß sie blinkten. Aber das wird noch untersucht. Sie erhalten von allen Dingen, die noch untersucht werden, den definitiven Befund … zu gegebener Zeit.«
Danach drehte sich das Gespräch eine Weile um die Details des Zusammenstoßes. Fest stand, daß Tonio nicht überfahren worden war. Er wurde erfaßt und vom Rad geschleudert. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mirjam jedesmal zusammenzuckte, wenn der Bericht zu plastisch ausfiel.
»Das Opfer«, sagte der Beamte Hendriks, »hatte eine, na ja, ziemliche Verletzung links, die sich über die gesamte linke Seite zog. Das sieht man deutlich auf den Fotos des Gerichtsfotografen, die
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