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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Schoß. Du warst dann immer im Welling oder im De Zwart, aber ich genoß es, mit den Kindern hier zu sein … ihr Lachen, ihre schlauen Kommentare … Neulich hörte ich einen Fetzen der Erkennungsmelodie. Die Mundharmonika von Toots Thielemans. Dann ist alles wieder da, ich kann sie fast berühren. Die warmen kleinen Körper in Flanell …«
    Sie stieß etwas aus, was ich einen Heulseufzer nennen würde. »Diese zynische Härte von Jim … das macht mich fertig. Natürlich begreife ich, daß er böse und traurig ist über Tonios Tod. Aber gerade deswegen. Ich bin Tonios Mutter. Jim durfte immer überallhin mit. Spanien … Nerja, Lanzarote … die Flugreisen, die Apartments, die Restaurants. Nichts war uns zuviel. Ein paarmal zur Buchpreisverleihung De Gouden Uil in Antwerpen. Im Hilton bekamen sie eine Suite für sich … nichts war zu verrückt. Sie waren wie Brüder. Sie gehörten zueinander. Und jetzt … was für ein gräßlicher, abscheulicher Scheißtag.«
    »Ich merke«, sagte ich, »daß unsere Geduld mit anderen Menschen schneller zu Ende ist als sonst. Unsere Haltung gegenüber der Außenwelt ändert sich rasant. Vielleicht sogar für immer.«
    Mirjam hatte einen ihrer schlimmsten Heulabende seit dem Schwarzen Pfingstsonntag. »So … so stinkgemein, daß er nicht mehr da ist … so schrecklich, daß er nie mehr dort« (sie deutete mit schlaffem Arm auf die Eckcouch, die wir selbst nie benutzten) »auf seinem Stammplatz sitzen wird mit seinem Glas Pils … Tygo auf dem Schoß. So ungerecht.«
    Allmählich war ihr Gesicht von dem andauernden Weinen so verquollen, daß ein anderer als ich es nicht mehr erkannt hätte.
    »Wenn das Schicksal selbst so ungerecht ist«, stammelte ich noch, »was für einen Sinn hat es dann, von den Menschen … ich meine, den Menschen im Umkreis dieses Schicksals … auch nur ein bißchen Gerechtigkeit zu verlangen?«
    »Diese Festplatte mit Tonios Fotos«, sagte Mirjam auf einmal heftig, »da schalte ich notfalls einen Anwalt ein. Ich will nicht mehr, daß die beiden Jungs etwas damit machen. Sie hatten fast zwei Monate Zeit. Jetzt sind wir an der Reihe.«
    »Ach nein, Minchen … du darfst es nicht so auf die Spitze treiben. Tonio hat die beiden als seine besten Freunde ausgewählt. Wir sind es ihm schuldig, weiterhin freundlichzu ihnen zu sein, auch wenn sie es nicht sind. Wenn sie irgendwas mit diesen Fotos anstellen würden, ja, das wäre was anderes.«
    Sie nickte und rieb sich das Gesicht trocken. Ich schätzte, daß meine Bitterkeit noch größer war als ihre. Dies war keine Generation heiliger Versprechen. Oder vielleicht waren sie ja heilig, diese Versprechen, dann allerdings im Sinne von scheinheilig.
22
     
    Bevor er aufs Gymnasium wechselte, schaffte Tonio es, uns ein Mordsding von Armbanduhr im Wert von ungefähr achthundert Gulden abzuluchsen. Sie sah an seinem schmalen Handgelenk aus wie eine Tiefseeuhr, die größere Tiefen aushält als das Herz des Tauchers. Tonio war auf seinen Abluchstrick genauso stolz wie auf die Uhr selbst.
    Er trug sie immer. Anders als sein Portemonnaie und sein Handy wurde uns die Uhr im AMC nicht ausgehändigt. Wir fragten später auf der Intensivstation nach. Sie war nicht bei seinen Sachen gewesen. In der Ambulanz hatte man ihm die Kleider vom Leib geschnitten: Sie waren, zusammen mit seinen Schuhen, der Unfallpolizei mitgegeben worden. Vielleicht befand sich die Uhr bei diesen Sachen und konnte in der James Wattstraat angefordert werden.
23
     
    Der Traumatologe, Dr. G., der am Pfingstsonntag das Operationsteam geleitet hatte, hatte uns an jenem Tag seine Karte zugesteckt, auf der neben den üblichen Angaben stand »für evtl. Nachgespräch«. Ich hatte ihm Tonios Foto geschickt und den Trauerbrief und darauf, handgeschrieben, unseren aufrichtigen Dank für seine Bemühungen.
    Jetzt, so viele Wochen nach Tonios Tod, wollten wir allesüber seine Verletzungen und die Operation erfahren. Mirjam wollte wissen, ob ihre Intuition richtig war: daß Tonio schon gleich nach dem Eintreffen im AMC aufgegeben worden war. Ich zweifelte, ob eine solche Frage bei einem Chirurgen, der bis zuletzt um Tonios Leben gekämpft hatte, angebracht war. Die Ungewißheit quälte Mirjam, ob Tonio durch das künstliche Koma hindurch noch gelitten hatte, und sei es nur in den tiefsten Regionen seines Bewußtseins.
    Darüber stritten wir uns im Bett, bis es Zeit wurde, uns fertig zu machen: Um halb zwei war unser Termin bei Dr. G. im AMC .
    Unser Streit betraf

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