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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Ach so.
    »Nachdem Ihr Sohn hier eingeliefert worden war«, fuhr Dr. G. fort, »habe ich mich zuerst um seine Milz gekümmert. Er hatte einen harten Schlag an der linken Seite erlitten. Ich habe, wie Sie sich vielleicht erinnern, zuerst die Hälfte weggenommen. Als die andere Hälfte weiterblutete, habe ich auch die entfernt. Seine Blutgerinnung war sehr schlecht … Währenddessen beschäftigte sich die Neurochirurgin mit seinem Gehirn. Der rechte Teil hatte begonnen anzuschwellen. Deshalb haben wir den Schädel auf dieser Seite geöffnet, um Flüssigkeit und Blut abzusaugen.«
    Dr. G. erzählte das alles so klar und detailliert, daß ich Tonios Leidensweg im Operationssaal erst jetzt richtig miterlebte. Die grelle Beleuchtung, die direkt in sein Innerstes drang und die natürliche Farbe seines Blutes veränderte … Das grüne Nylontuch mit den »Fenstern«, innerhalb deren operiert werden mußte … Hatte er denn eigentlich unter so einem Tuch mit Aussparungen gelegen? Man war an allen Stellen seines Körpers gleichzeitig mit ihm beschäftigt. Allenfalls seine Beine konnten bedeckt geblieben sein.
    Mein Junge, mein Sohn, der schöne Sproß meiner Lenden… so zerstört … Der Stolz seiner Mutter, buchstäblich die Frucht ihres Schoßes … so weit weg schon in jenem Moment und nicht imstande, aus eigener Kraft zurückzukehren oder durch die vereinten Bemühungen des Traumatologenteams zurückgeholt zu werden. Er hatte noch eine Chance, dort und damals, so miserabel die Prognosen auch waren.
    »Währenddessen hatte ich mir seine Lungen vorgenommen«, sagte Dr. G. »Eine einzige blutige Masse. Sie arbeiteten einfach nicht mehr. Als man ihn einlieferte, war sein Blutdruck alarmierend niedrig. Wir haben ihm eine Transfusion nach der anderen gegeben. So ungefähr war sein Zustand, als ich Sie das erste Mal informiert habe. Danach zeigte sich, daß auch seine linke Gehirnhälfte zu schwellen begann. Die Neurochirurgin hat sich daraufhin auch damit befaßt. Und das, obwohl seine übrigen Funktionen sich sehr schnell verschlechterten. Der Blutdruck sank wieder … Lungen, die keine Luft produzierten … und dann die miserable Gerinnung … Sein Zustand wurde immer hoffnungsloser. Ja, dann muß man in einem bestimmten Moment eine Entscheidung treffen. Er schafft es nicht. Es hat keinen Sinn, die Behandlung fortzusetzen.«
    Und nach einer kurzen Pause: »Ich kann Ihnen versichern … solange sich noch irgend etwas ausrichten läßt, arbeiten wir weiter. Besonders bei so einem jungen Menschen.«
    Tonio, der, ganz klein, ohne den Blick von der auf dem Tisch ausgebreiteten Bauanleitung abzuwenden, ein Fahrzeug aus technischen Legoteilen zusammensetzte, während seine wurmartigen Fummelfingerchen eigenständig arbeiteten.
    Tonio, der nach einem Besuch bei meinen Eltern vormachte (oh zärtliche, fromme Lüge), wie meine Mutter sichtlich weniger parkinsongebeugt dastand als noch vor einigen Wochen. »Erst stand sie so …« (Tonio tief gebeugt.) »Diesmal so …« (Fast aufrecht.)
    Tonio, der …
    »Wenn ich Ihnen nun meinerseits eine Frage stellen darf«, sagte Dr. G., »denn wir möchten aus jedem Fall lernen … Gibt es etwas, was wir besser hätten machen können?«
    »Wir Laien«, antwortete ich, »wer sind wir, Sie und Ihr hochqualifiziertes Team zu korrigieren oder zu kritisieren?«
    Und dann beging ich den Fehler, von der Pflegerin zu berichten, die beim Ertönen eines Alarmsignals an Tonios Sterbebett auf meine Frage, ob »dies das Ende« sei, munter geantwortet hatte: »Nein, nein, es geht im Gegenteil sogar etwas besser.«
    Was war in mich gefahren? Wenn ich das jetzt noch zur Sprache brachte, hieß das, daß ihre unüberlegten Worte damals tatsächlich Hoffnung bei mir geweckt hatten?
    »Ich wußte es besser«, fügte ich eilig hinzu, »aber ich könnte mir vorstellen, daß ein Angehöriger an eine solche Bemerkung falsche Hoffnungen knüpft und daraufhin ruft: ›Die Beatmung nicht abschalten! Er kommt zu sich!‹ Wir wollen ihr aber nicht den Schwarzen Peter zuschieben. Es war einfach ungeschickt.«
    Das wurde von Dr. G. bestätigt. Mirjam hatte während des größten Teils des Gesprächs geweint, und irgendwann meinte ich auch in den Augen des Professors etwas schimmern zu sehen. Er fragte, ob seine Beobachtung, derzufolge der Unfall an einer gefährlichen Kreuzung passiert sei, von der Verkehrspolizei bestätigt worden sei.
    »Na ja, nicht direkt«, sagte ich. »Aber in einer Umfrage in Het Parool rangierte sie

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