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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Untersuchung ergeben, daß er zuviel getrunken hatte?«
    »Das genaue Ergebnis liegt noch nicht vor«, sagte Hendriks, »aber es war eindeutig Alkohol im Spiel, ja, auf jeden Fall.«
    Ich dachte daran, was Goscha über die schnellen Runden erzählt hatte, und ich hörte Dennis wieder sagen: »Mit einem Schuß Tequila zwischendurch …«
    »Er hat einfach fürchterlich gedöst auf dem Fahrrad«, sagte Mirjam. »Nach so einer Nacht …«
    Müde, fertig , angetrunken, das Technogedröhne in den betäubten Ohren – das alles zusammen, und niemand konnte mich hindern hinzuzufügen, daß er, dahinradelnd, verliebt an Jenny gedacht hatte.
17
     
    Es sah alles danach aus, als sei kein Schuldiger an Tonios Tod zu benennen, jedenfalls nicht im juristischen Sinn. (Meine Selbstbezichtigungen standen auf einem anderen Blatt.) Aber mußte ich mich dann einfach der Sichtweise anschließen, nach der das blinde, stumme Schicksal die Urheberinwar? Oder durfte ich mich, anstatt mich dem Fatalismus zu ergeben, auch von Zeit zu Zeit zu Tode empört fühlen?
    Mein Sohn, mein einziges Kind, verdammt noch mal, war wie ein Hund auf der Straße totgefahren worden, auf einer öffentlichen Straße. An Konferenztischen war, gestützt durch Zahlen, verfügt worden, daß bestimmte Ampeln zu dieser Nachtstunde besser ausgeschaltet blieben oder warnend blinkten. Alles eine Sache der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
    War seine Sicherheit optimal gewährleistet gewesen? Gut, als Einundzwanzigjähriger war er für sich selbst verantwortlich – aber doch immer noch in Relation zum Verkehrskonzept der Stadt Amsterdam, für das höhere Verkehrsregler verantwortlich waren. Sonst könnten wir genausogut über eine kahle Asphaltfläche ohne Striche, Pfeile, Schilder und Ampeln brettern, Autoscooter spielend, ohne Gummiring, und lägen danach alle kichernd auf dem Friedhof.
    Ein Unfall, wie er Tonio zustieß – er wurde von den Rechenmeistern einkalkuliert. Nach ihren Berechnungsmethoden passieren nachts an bestimmten Kreuzungen mit Ampeln, die in vollem Betrieb sind, mehr Unfälle, als wenn sie nur auf gelbes Blinklicht geschaltet sind. Aber … jemand , in diesem Fall Tonio, mußte das geringere Risiko der nicht funktionierenden Ampeln tragen.
    Schicksal? Er ist uns genommen worden. Daß so ein Junge einfach tödlich erfaßt und aufs Pflaster geknallt wird, dürfen wir nie unter die »Dinge, die nun mal passieren«, einordnen. Damit darf man sich nie abfinden, auch nicht, wenn das Schicksal eine Augenbinde trägt und von der Wahrscheinlichkeitsrechnung durch Einflüsterungen gesteuert wird.
18
     
    Die Polizeibeamten Hendriks und Windig von der Abteilung Schwere Verkehrsunfälle begleiteten uns bis in die Eingangshalle. Es waren die zuvorkommendsten Polizisten, die ich je erlebt habe. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie bereits viel mehr über die technische Untersuchung wußten, als sie vorgaben. So hatten sie es natürlich an ihrer Abteilung der Polizeiakademie gelernt: den unter Schock stehenden Hinterbliebenen die Wahrheit stufenweise nahebringen, selbst wenn es um das Fehlverhalten des Opfers geht.
    Wir überquerten die Straße schräg in Richtung der Tierhandlung, wo unser Katzenfutterlieferant noch immer rauchend und trinkend auf seiner Bank saß, inzwischen allein. Ich war so in Gedanken, daß ich die Hand nach dem Türgriff eines grünen, dem unseren ähnelnden Autos ausstreckte, das vor dem Laden parkte. Ich öffnete die Tür: Auf dem Beifahrersitz stapelten sich Pakete mit Katzenstreu.
    »Ja, steig ruhig ein«, rief der Tierhändler. »Nimm‘s mit. Wenn ich dafür euer Haus bekomme.«
    Ich streckte entschuldigend die Hand hoch und folgte Mirjam zu unserem eigenen Auto, direkt um die Ecke in der Van Breestraat.
19
     
    »Und das nennt sich Zivilisation?« faßte ich unterwegs Mirjam gegenüber meinen Ekel noch einmal zusammen. »Eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft, eine Stadt … das sollte doch Überwindung der Unordnung bedeuten. Es ist eine Organisation, die nichts dem Zufall überläßt, das zumindest so wenig wie möglich tun sollte. Das Chaos findet immer irgendwo einen Spalt, durch den es in die Ordnung eindringt. Aber alle Anstrengungen sollten sich stets auf Ordnung, Organisation, Beherrschung des Chaos richten. Oder nicht? Ich will ja gern glauben, daß es weniger riskant ist, um diese Uhrzeit das gelbe Licht blinken zu lassen, als mit Rot und Grün zu arbeiten. Eine Sache der menschlichen Psyche … Natürlich

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