Tonio
die von Jenny) auf eine Festplatte zu kopieren, daß Tonios Computer aber »nicht in Ordnung« sei. Wörtlich sagte er zur Mutter seines verstorbenen Busenfreunds: »Und komm nicht immer einfach so vorbei, ich hab hier schließlich noch was anderes zu tun.«
Der Junge hatte sicher vergessen, daß er die Wohnung mit Tonio teilte und daß wir, Tonios Eltern, nach wie vor die Hälfte der Miete bezahlten. Auch schien Jim aus dem Auge zu verlieren, daß Tonio als endgültig Abwesender nicht länger über seine eigenen Sachen wachen konnte.
»Jim«, hatte Mirjam gesagt, »du und Dennis, ihr wolltet innerhalb von zwei Wochen mit einer Vorauswahl der Fotos zu uns kommen. Jetzt ist es schon fast zwei Monate später. Adri und ich haben unseren Sohn verloren … Kannst du dir vorstellen, Jim, daß wir alles, was Tonio gehört hat und was an ihn erinnert, in unserer Nähe haben wollen … auch seinen Computer?«
»Ich bin dabei«, lautete seine Antwort. Immerhin zeigte Jim, in wesentlich engagierterer Form, sein Interesse an Tonios Laptop. Er selbst habe keinen, jedenfalls keinen einsatzbereiten, das heißt, wenn er den von Tonio morgen mitnehmen dürfe, da fahre er mit seinen Eltern in Urlaub … Kein Laptop, kein Urlaub, das war ja klar.
Tonios Laptop war ein besonderer, ausgestattet mit einem digitalen Tablet, auf dem man mit einem speziellen, elektronischen Stift schreiben konnte. Es gibt wenige Erinnerungen, die mich in diesen Wochen so außer Fassung zu bringen vermögen wie die an den stolzen, verlegenen Tonio, der mir dieses Geburtstagsgeschenk in meinem Arbeitszimmer vorführte, wobei er mich aufforderte, selbst etwas auf dem Display zu schreiben. (Endlich drang der Digi-Laie, der ich war, in einen Computer ein.) Herrgott noch mal, dieser liebe Junge … in seiner ganzen Erwachsenheit war er noch immer das Kind, das sich über den speziellen Schnickschnack an einem Geschenk freuen konnte. Das war in dem Sommer, bevor er anfing, Medien & Kultur zu studieren.
»Praktisch, so ein Ding … im Hörsaal. Ich freu mich wirklich irre darüber.« Und weg war er wieder. »Oi, frohes Schaffen!«
Was wäre naheliegender gewesen, als Jim den Laptop als Andenken an seinen besten Freund zu schenken? Jetzt aber nicht mehr, nachdem er sich so hundsgemein gegenüber der trauernden Mutter dieses besten Freundes benommen hatte.
Als Mirjam etwas später am selben Nachmittag Jim anrief und ihn zurechtzuweisen versuchte, unterbrach er nach kurzer Zeit die Verbindung, mitten in einem Satz von ihr. Wieder etwas später rief er zurück.
»Komm und hol den Computer ab«, sagte er barsch und mit einer Haltung, als wäre es seine Aufgabe, dieser Nerverei ein Ende zu machen. »Ich hab alles auf die Festplatte kopiert.«
Ich saß mit den Zeitungen auf der Veranda, als Mirjam mir dies mitteilte. Ich konnte nicht gleich antworten, nur den Anblick meiner Traurigkeit bieten: daß die ganze Welt,einschließlich Tonios bester Freunde, wieder seelenruhig zur Tagesordnung übergegangen war – und zwar in einer Weise, daß die Versprechen aus der Zeit kurz nach Tonios Tod verblaßt waren oder sogar bereits ungültig geworden zu sein schienen.
Der Himmel wurde tiefschwarz. »Es soll ein Gewitter geben«, sagte Mirjam. »Ich fahr vor dem Guß noch schnell zu Gall & Gall. Wodka, Gin … wir haben nichts mehr im Haus. Gerade jetzt, wo wir die Medizin am dringendsten brauchen.«
Ich fuhr die Markisen hoch und ging mit den Zeitungen ins Wohnzimmer. Dort war es dunkel wie an einem Dezembernachmittag. Ich schaltete alle Lampen ein und machte den Fernseher an. In den Sechs-Uhr-Nachrichten wurde von einem Unwetter in Brabant und Limburg berichtet, das in Richtung Gelderland weiterzog. »Bäume werden wie Streichhölzer geknickt.«
Eine Viertelstunde später saßen wir, nach so vielen Abenden unter freiem Himmel, im Dämmerlicht und tranken. Es war etwas Hering auf Roggenbrot da: Aus mehr würde unser Abendessen nicht bestehen. Ich konnte meinen Bombay Sapphire Gin endlich wieder einmal mit London Club Tonic verdünnen, der kräftiger im Geschmack und weniger süß war als das fade, nur schwach prickelnde Schweppes. Irgendwo am Stadtrand knatterte und blitzte das Gewitter.
»Wenn ich daran denke …« Mirjam schüttelte den Kopf. »Die beiden Jungs, Jim und Tonio. Wie sie hier freitags in ihren Schlafanzügen auf dem Boden vor der Glotze hockten. Sie fanden es unheimlich cool, daß ich ihnen erlaubte, Baantjer zu gucken. Mit einem Teller Pommes auf dem
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