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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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diese eine schmerzliche Frage und ob wir sie dem Traumatologen stellen sollten oder nicht. »Jedenfalls willst du die Strategie, die wir verfolgen, ziemlich eindeutig nach deinen Vorstellungen festlegen, Minchen.«
    »Wenn ich dir alles überließe, wäre es auch wieder nicht recht.«
    Ich hatte seit unserem letzten Besuch im AMC , abgesehen von der Beerdigung, nie mehr etwas anderes getragen als die verblichene Trainingshose und das formlose Holzfällerhemd. Jetzt mußte ich mir normale Sachen anziehen. In den zurückliegenden Wochen hatte mein Appetit stark nachgelassen, nicht aber der schmerzstillende Alkoholgenuß, so daß mir mein Jackett doch zu eng geworden war.
    Die Sonne hatte bereits seit Stunden auf das Dach des Renault gebrannt, weshalb ich trotz der Klimaanlage die erste Hälfte der Fahrt schwitzend dasaß. Dieselbe Strecke wie am Pfingstsonntag. Damals in würgender Ungewißheit, jetzt in erstickender Gewißheit. Auf dem Weg zum selben Arzt. Er war damals, nach sechsunddreißig Stunden Dienst, notgedrungen nach Hause gegangen, während Tonio noch lebte. Er hatte sich erschöpft von uns verabschiedet, als, zumindest theoretisch, noch Hoffnung bestand. Gleich würde er die inzwischen kinderlosen Eltern empfangen. Zwischen alle Beteiligten hatte sich, unerschütterlich wie ein Stein, einegroße Gewißheit gesenkt. Wie fühlte sich das für ihn an? Als Niederlage?
     
    Die Traumatologieabteilung liegt im ersten Stock des Flügels, in dem sich alle Polikliniken befinden. Wir meldeten uns am Empfangstresen an. Die Rezeptionistin wußte Bescheid und bat uns, auf einer Bank in der Halle Platz zu nehmen. Während wir warteten, kehrte dieses gehetzte Gefühl wieder: Das unsagbar Schrecklichste stand noch bevor, und gleich würden wir von Dr. G. erfahren, was es war.
    Diese Spannung ließ unseren Streit vom Vormittag wieder kurz auflodern. »Wir wollten allem auf den Grund gehen«, sagte ich. »Also, hier sitzen wir.«
    »Ja, und deshalb werde ich ihn danach fragen.«
    »Du wirst sehen, das wird er falsch verstehen.«
    Dr. G.s Assistentin führte uns in sein Zimmer. Der Arzt war groß, aber doch wesentlich weniger groß, als ich ihn von Pfingsten her in Erinnerung hatte: Er mußte in meiner Phantasie zu der abschreckenden Länge angewachsen sein, die dem wahren Unheilsboten vorbehalten war. Er konnte nicht älter als Anfang Vierzig sein.
    Ich sagte: »Schön, Herr Professor, daß Sie Zeit für uns hatten.«
    »Selbstverständlich. Nehmen Sie Platz.«
    Er selbst ließ sich an seinem kleinen Schreibtisch nieder. Wir nahmen ihm gegenüber Platz. Ich hatte den Eindruck, daß der Arzt bei aller Autorität, die er ausstrahlte, ein wenig nervös und unsicher war. Es konnte ja sein, daß wir ihm die schwersten Vorwürfe machen wollten. Er bedankte sich für den persönlichen Brief, den wir ihm zusammen mit Tonios Foto geschickt hatten. »Wie geht es Ihnen beiden jetzt nach allem, was passiert ist?«
    »Schlecht«, sagte Mirjam. »Aber wir sind nicht zusammengebrochen. Das ist noch das Beste, was sich sagen läßt.«
    Er nickte. Ich erzählte ihm, was wir bisher von der Abteilung Schwere Verkehrsunfälle gehört und was wir durch eigene Anstrengung in Erfahrung gebracht hatten. Ich korrigierte die früher genannten Fakten: Tonio sei nicht aus dem Paradiso, sondern aus dem Club Trouw in der Wibautstraat gekommen. Dr. G. nickte.
24
     
    »Wenn Sie spezielle Fragen haben«, sagte Dr. G., als eine Pause eintrat, »dann kann ich gezielt darauf eingehen.«
    »Sie und Ihr Team«, begann Mirjam, »haben Tonio den ganzen Tag operiert. Wußten Sie nicht von Anfang an, daß er es nicht schaffen würde?«
    Jetzt fragte sie es doch, und nicht ganz in der vereinbarten Formulierung.
    »Sie finden, wir hätten zu lange operiert?« fragte Dr. G. einigermaßen erschrocken. Er wappnete sich.
    »Wenn ich das kurz erläutern darf«, sagte ich. »Mirjams Frage bezieht sich auf ihre Intuition an diesem Tag. Die Polizei, die morgens bei uns vor der Tür stand, sprach von kritischem Zustand. Mirjam glaubte schon da zu wissen … instinktiv sozusagen … daß Tonio es nicht schaffen würde. Auch als Sie aus dem OP kamen, um uns einen Zwischenbericht zu geben, blieb bei Mirjam die Gewißheit, daß er sterben würde … bereits im Sterben liege. Bei mir war das anders. Wie oft hört man nicht, daß jemandes Zustand kritisch ist … und dann erholt sich die Person wieder. Ich dachte: Solange er operiert wird, besteht die Chance, daß er es

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