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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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bleiben immer Risiken. Bei Tonio und dem Suzuki hat es nicht funktioniert, daß das Blinklicht eingeschaltet war. Tonio war das Opfer der Ausnahme. Die kleinere Niederlage, die das System erleidet, zum Vorteil der größeren. Das Schreckliche daran ist, daß die Gesellschaft diesen Verlust als selbstverständlich hinnimmt … schweigend … Er ist einkalkuliert. Die Folge davon ist: Niemand wendet sich an uns. Kein Wort der Entschuldigung, nichts. Eiskalte Stille. Wir zahlen einfach weiter Steuern für die Amsterdamer Verkehrsampelschaltung bei Nacht. Niemand schert sich darum. Wir haben unseren Verlust hinzunehmen, wie sie ihren Verlust hinnehmen. Als kleinen Betriebsunfall.«
    Was hier passiert war, senkte sich als derart unsäglicher Schrecken auf uns, daß eine fatalistische Haltung unmöglich war. Ohne eine Beantwortung der Schuldfrage war nicht weiterzuleben. Etwas oder jemand mußte das auf seinem Gewissen haben – irgendeine verantwortliche Instanz. Ein Mensch oder ein Institut. Weil ich nichts und niemanden ausmachen konnte, endete ich bei mir. Ich war der Schuldige.
20
     
    »Was uns widerfahren ist«, sage ich, als wir wieder zu Hause sind, »gleicht noch am ehesten einem Wunder … im verderblichen katholischen Sinne des Wortes. Minchen, es ist so unfaßbar, es hat so wenig mit den alltäglichen Geschehnissen zu tun, daß es nicht weniger als ein Wunder ist. Dein Sohn wird mit einem gewaltigen Schlag in den Himmel aufgenommen. Du selbst glaubst es nicht. Du rennst zurück zum Dorfbrunnen, und alle reagieren genauso ungläubig. Fassungslos. Entsetzt. Du selbst kannst es noch am wenigsten glauben. Einige versuchen, das Wunder physikalisch zu erklären. Wenn das Auto dreißig Kilometer in der Stunde fuhr, dann hatte der von ihm erfaßte Radfahrer eigentlich kaum eine Chance zu überleben. Quod erat demonstrandum. Aber ein Wunder bleibt es, für uns. Unser Einzigartiger Einziger ist aus unsererMitte gerissen worden und wird nie mehr wiederkehren. Ein Ereignis, das mit nichts in Beziehung steht, außer mit vorangegangenen Angstphantasien. Und das macht es gerade so obszön mirakulös. Eine verwirklichte Vision. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein.«
    Weil meine Worte sie wieder an das Unwiderrufliche erinnern, bricht Mirjam in Weinen aus – sehr laut, wie nur ein längelang hingefallenes Kind es kann. Anders als bei diesem gibt es bei ihr nichts, das in der Lage ist, sie aufzumuntern. Erst als sie sich einigermaßen beruhigt hat, wiederhole ich meine Klage: »Ich würde dich so gern trösten, Minchen, aber das Dumme am Trost ist, daß er immer ein Versprechen in sich trägt: ›Es wird schon gut werden.‹ Ich kann dir so etwas nicht versprechen.«
    »Nein, aber daß du da bist, hier neben mir sitzt, das ist schon genug.«
    Als Mirjam ihren Vater aus dem Beth Shalom abgeholt und nach Hause gebracht hat (Kummer neben Kummer in einem alten Renault), trinken wir auf der Wohnzimmercouch einen viel zu starken Longdrink. Mit einem Kartoffelschälmesser schneide ich Umschlag um Umschlag der Beileidsbezeigungen auf. Wir lesen abwechselnd, bis Mirjam nicht mehr kann. Es sind vor allem die Briefe von Tonios ehemaligen Schulkameraden, die ihr das Herz brechen. Wir versuchen, etwas zu essen. Ein Stück Stangenbrot mit Eiersalat – ich bekomme es nicht hinunter. Mirjam umklammert reglos eine Tasse Hühnersuppe, in die ihre Tränen fallen – lautlos, Gott sei Dank.
    Als ich sie im Stich lasse, um schlafen zu gehen, wenigstens ins Bett zu kriechen, liegt sie mit schläfrigen Augen (Valium, Wodka) auf der Couch und schaut sich, ohne etwas zu sehen, einen Thriller an. Ich gebe ihr einen Gutenachtkuß.
    »Tschüs, Kleiner«, sagt sie mit ihrer dünnsten Stimme.
21
     
    Heute nachmittag war Mirjam noch einmal mit unserem Freund Klaas in der Nepveustraat, um in Tonios Computer nach Jennys Fotos zu suchen. Sie kam verbittert nach Hause.
    »Begreift er denn nicht«, rief sie, »daß eine Mutter sich an alles klammert, was ihr verstorbenes Kind hinterlassen hat?«
    Er, das war Jim. Nach langem Klingeln war er schlaftrunken und desorientiert an der Tür aufgetaucht, in einer Wolke von abgestandenem Haschgeruch.
    »Mir geht langsam auf«, sagte ich, »daß alle Geschichten über diesen chronisch Schlaflosen mit Schlaf, Schlafen und Schläfrigkeit zu tun haben. Vielleicht haben wir sein Problem falsch eingeschätzt.«
    Jim stellte sich quer. Er erklärte Mirjam und Klaas, daß er dabei sei, alle gefundenen Fotos (also nicht

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