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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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schafft.«
    Für einen Moment fühlte ich mich zurückversetzt in das kleine Wartezimmer des dreiundzwanzigsten Mai, an einem Sonntag, der noch gut enden konnte. Ich spürte sogar, mit verkrampften Händen, wie die Angst vor den Verletzungen zurückkehrte, vor der Gehirnschädigung, mit der Tonio würde weiterleben müssen. Ich schüttelte den Gedanken ab. Tonio war jetzt sechs, sieben Wochen tot. Eine Gewißheit,die wir in all den Wochen mit verbissener Ungläubigkeit umgingen.
    »Ich vermute«, sagte ich, »daß Mirjams Frage eigentlich eher eine medizinethische ist. Sie möchte wissen, ob Sie verpflichtet sind, weiterzuoperieren, solange der Patient irgendwelche Lebenszeichen aufweist. Nicht wahr, Minchen?«
    Die Frage von Mirjam an Dr. G. verriet etwas von ihrem Dilemma. Wenn ihr Sohn schon nicht zu retten war, wünschte sie sich zutiefst, daß Tonio schon vom Beginn der Operationen an allem Schmerz und allem Leiden enthoben gewesen wäre.
25
     
    Eine stets wiederkehrende Frage von Besuchern lautet: »Hat Tonio stark gelitten?«
    Ich höre mich antworten: »Er war durch den Aufprall sofort bewußtlos. Sie haben ihn im Rettungswagen reanimiert, und darauf hat er gut reagiert. Doch nach Aussage der Ärzte hat er das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Im Operationssaal haben sie ihn sicherheitshalber unter Narkose gehalten. Nein, er hat nichts davon gemerkt.«
    Bin ich ehrlich? Ich muß an eine Passage aus Anekdoten rondom de dood (Anekdoten rund um den Tod) denken, in der Harry Mulisch die Reaktion Thomas Manns auf eine Lungenoperation zitiert. Als dieser aus der Narkose erwachte, sagte er: »It was much worse than I thought … I suffered too much!«
    In Die Entstehung des Doktor Faustus fragt Mann sich: »Gibt es irgendwelche Tiefen des Vitalen, in denen man, bei völlig ausgeschaltetem Sensorium, dennoch leidet? Ist Leiden vom Erleiden im Untersten nicht vollkommen zu trennen?«
    Mulisch schreibt dazu: »Wenn die Ausschaltung meines Bewußtseins mich schon nicht von Schmerzen verschont, dann besteht wenig Hoffnung, daß meine Vernichtung anmir vorübergehen wird. Sie wird nicht an mir vorübergehen. Sie wird nie an mir vorübergehen, sie stockt in sich selbst, bleibt stecken in einer für immer erstarrenden Welt – mein Ende hat nie ein Ende: Meine Vernichtung ist ewig .«
    Die Haare sträuben sich bei dem Gedanken, daß dies wahr sein könnte. Mein armer Tonio, der für immer festgeschmiedet in seiner Vernichtung ist … Sicher ist, daß seine Vernichtung in uns weitergeht. Mirjam und ich werden die Verwüstung seines Lebens bis zu unserem eigenen letzten Atemzug erleiden.
    Und wenn ich davon ausgehe, daß Mirjam, acht Jahre jünger als ich, von uns beiden als letzte stirbt, ist Tonios Vernichtung damit dann aus der Welt?
26
     
    Mirjam nickte. Ich sah ihren Augen an, daß es ihr die Sprache verschlagen hatte.
    »Ich werde den Ablauf der Operation kurz für Sie zusammenfassen«, sagte Dr. G., an Mirjam gewandt, »dann hoffe ich, daß Ihre Frage damit von selbst beantwortet ist.«
    »Darf ich Sie bitten, mit dem Rettungswagen anzufangen?« Oh, wie verzweifelt ich mich bemühte, als harter Befrager und Ermittler zu erscheinen, vor allem in meinen eigenen Augen. »Ich habe gehört, daß ein zweiter Rettungswagen beteiligt war.«
    »Wegen der damit verbundenen Lärmbelästigung darf nachts kein Rettungshubschrauber fliegen«, sagte Dr. G. »Deshalb setzen wir einen zusätzlichen Rettungswagen mit einem chirurgischen Team und einer besonderen Ausstattung ein.«
    Sehr plausibel, daß in unserer überdrehten hedonistischen Gesellschaft Lebenschancen der ungestörten Nachtruhe des Bürgers geopfert werden, oder? Wir mußten ja bekanntlich zulassen, daß jede verrückte Saufgesellschaft nachts lautschreiend durch die Grachten fuhr. Nicht das Leben, das Saufen war heilig.
    »Wurde Tonio vor Ort reanimiert?« fragte ich.
    »Lassen Sie es mich so sagen«, sagte Dr. G., »es sind reanimierende Maßnahmen erfolgt. Wie zum Beispiel Beatmung. Seine Lungen arbeiteten ja nicht mehr. Und man hat Blut transfundiert, gleich zu Anfang. Er hatte am Unfallort ziemlich viel Blut verloren … Aber umfassende Reanimation, nein. Oft ist es so, daß, wenn voll reanimiert wird, im Rettungswagen während der Fahrt, das Opfer beim Eintreffen hier bereits gestorben ist.«
    »Das heißt, Tonio war sozusagen stark genug, um mitzuarbeiten?«
    Ich spürte einen Klumpen unangebrachten Stolzes in meiner Kehle. Er war doch trotzdem gestorben, oder?

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