Tonio
schon als gefährlich.«
Ich deutete auf die Akte, die der Professor während seiner Erläuterungen ein paarmal zu Rate gezogen hatte. »Könnte ich eventuell Einblick in die Unterlagen bekommen? Ich habe vor, Tonio eine Art Requiem in Prosaform zu widmen, und vielleicht … im Moment könnte ich das nicht lesen … aber in einem späteren Stadium …«
»Dann müßten Sie es zu gegebener Zeit bei mir anfordern«, sagte Dr. G. »Ich warne Sie aber jetzt schon: Es stehteine Menge medizinischer Begriffe drin. Die Berichte sind teilweise im Telegrammstil abgefaßt, manchmal muß man … in lebensbedrohlichen Situationen … also, da muß man schnell sein.«
»Sollte ich es je anfordern«, sagte ich, »dann werde ich äußerst diskret damit umgehen.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte Dr. G.
Ich dankte ihm für seine klaren Erläuterungen. »Wir haben uns manchmal etwas ungeschickt ausgedrückt, aber Sie können sicher sein, daß wir große Bewunderung dafür haben, was Sie und Ihr Team geleistet haben.« Mirjam und ich erhoben uns. »Wir lassen Sie jetzt wieder an die Arbeit.«
»Auch das gehört zu meiner Arbeit.«
27
Wenn ich Dennis und Goscha glauben durfte, und warum sollte ich ihnen nicht glauben, war an jenem Abend und in jener Nacht ziemlich viel Alkohol geflossen. Ich weiß nicht, ob es genug war für einen Kater am nächsten Tag. (Als Tonio in die Nacht radelte, hatte Goscha ihn keine Schlangenlinien fahren sehen.) Tonio verbrachte the morning after auf dem Operationstisch. Wenn es so war, daß Schmerzen sich nicht vollständig durch eine Narkose unterdrücken ließen, wie stand es dann mit einem Kater?
Und: Was bedeutete dieser Alkoholkonsum für die Operation? Dr. G. hatte gesagt, Tonios Blutgerinnung sei verheerend gewesend. Hatte das etwas mit dem Trinken zu tun? Ich erinnerte mich, daß man Tonio gleich nach seiner Geburt, noch bevor er in den Brutkasten kam, Provitamin K spritzte, um die Blutgerinnung zu fördern. Später lernte ich in Maastricht den Entdecker des Provitamins K kennen, Professor Hemker, außerdem ein großer Oboensammler. Ich dankte ihm, auch in Tonios Namen, für seine gelehrten Bemühungen.
Wenn ich in Scham versinken wollte, mußte ich mir nur vorstellen, wie die Chirurgen im OP -Saal über den Alkoholgeruch des Patienten gesprochen hatten.
Die Zitate aus Thomas Mann gehen mir immer noch im Kopf herum. »It was much worse than I thought …« Wenn es so ist, daß das Bewußtsein auch unter Narkose in irgendwelchen Tiefen einfach fortfährt, sich die vorhandenen Schmerzen anzueignen, dann hat Tonio in den letzten zwölf Stunden seines Lebens, völlig reglos daliegend, grauenvoll gelitten – erst auf dem Asphalt, dann im Rettungswagen, später im Operationssaal und zum Schluß (gerade noch in Anwesenheit seiner Eltern) auf der Intensivstation.
Ich habe mir immer vorgehalten, das Schlimmste am Schmerz sei: die Wirkung des Leidens. Man erinnert sich an die Ursache des Schmerzes, die Scham, daß man ihn sich zugezogen oder selbst die Hand dabei im Spiel gehabt hat. Man spürt, wie der Schmerz nachläßt, und erlebt die Angst, das Leiden könne jeden Moment wieder an Heftigkeit zunehmen. Man fürchtet, der Schmerz könne auch der Bote des nahenden Todes sein. Und so weiter.
Zur Beruhigung habe ich mir immer gesagt: Schmerz, den der Tod rasch löscht und der nicht im Bewußtsein neu aufgerufen und überdacht werden kann, hat eigentlich nicht existiert.
Was aber, wenn der Schmerz, bevor er im Tod aufgeht, einen halben Tag lang hat wüten können, wie bei Tonio? Hat dieses Leiden dann auch nicht existiert? Bis wie weit in die Vergangenheit reicht, rückwirkend, die Macht des Todes als Schmerzbekämpfer?
Ein sechsjähriger Junge fällt aus einem Fenster im ersten Stock und spießt sich auf den scharfen Spitzen des Gartenzauns auf. Das Kind überlebt mit knapper Not. Eine halbe Stunde benötigen Anwohner, um es zu befreien. Als der Junge schließlich im Alter von achtzig Jahren stirbt, löscht der Tod, über die vergangenen Jahrzehnte hinweg, auch diedamaligen Schmerzen des Sechsjährigen aus? Wenn das der Fall wäre, können wir genausogut behaupten, daß der Tod »rückwirkend« jedes Gefühl, das sich in einem Menschenleben geregt hat, löscht – ja, das Leben insgesamt löscht, als hätte es nie existiert.
Gerade in meinen klarsten Momenten bin ich davon überzeugt, daß Tonio, genau wie der Verfasser von Tonio Kröger , in den Tiefen seines vitalen Systems die
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