Tonio
Nelleke entschieden. »Das kommt nicht zum Schrott.«
Getragene Schuhe nehmen immer etwas von der Seele des Besitzers an. Das ist an der leichten Verformung der Öffnung zu erkennen … an den schiefgetretenen Absätzen …an den Grautonnuancen der x-förmigen Abdrücke, die die Schnürsenkel hinterlassen. Dieses Schuhporträt entdeckte Mirjam plötzlich, und sie brach zusammen.
Der Polizeibeamte Hendriks führte die beiden Frauen wieder durch das Labyrinth zum Ausgang. Hier landeten also die Besitztümer der nachts an einer Kreuzung Überraschten, der Hochgeschleuderten und zu Boden Gefallenen. Sachen, oft blut- oder schlammverschmiert, die auf den rechtmäßigen Eigentümer warteten, der manchmal von seinen beziehungsweise ihren Hinterbliebenen und Erben vertreten wurde.
Hendriks gab den Damen die Hand und versicherte Mirjam noch einmal, sie könne jederzeit anrufen. So gingen sie zum Auto – Nelleke eine Hand am Fahrradlenker, den anderen Arm um Mirjam gelegt. Bevor sie ins Auto stiegen, rief Mirjam mich an.
»Diese furchtbar leeren Schuhe, Adri … ohne seine Füße … ohne daß er darinsteckt. Sie gähnen mich mit so einer grauenhaften Leere an.«
»Und das Fahrrad?« wollte ich wissen.
»Dem fehlt nichts. Du kannst aufsteigen und losfahren. Keine Beule.«
Mirjam sagte, sie wolle mit Nelleke ins Gartenzentrum fahren, um ihr etwas für ihre Hilfe zu schenken. »Etwas kaufen, das hilft vielleicht, so wie früher im Hema.«
»Und die Uhr?« fragte ich.
»Die war nicht dabei«, sagte Mirjam. »Sie kann noch irgendwo bei ihm zu Hause …«
»Er hat sie immer getragen«, sagte ich. »Zumal wenn er ausging.«
»Vielleicht ist sie ihm beim Unfall vom Handgelenk gesprungen …«
Ich mußte an einen Vorfall aus meiner Jugend denken, den ich in Fallende Eltern ausgemalt hatte. Auf einem schmalen Radweg durch die Heide wurde meine Mutter von einementgegenkommenden Radler angefahren und landete im Graben neben der Böschung. Ihr linkes Handgelenk blutete: dort, wo das Gliederarmband ihrer Uhr am Nippel der Fahrradklingel hängengeblieben und aufgegangen war. Die Uhr mußte im rostbraunen Grabenwasser liegen. Wir fuhren zu meinen Großeltern, die in der Nähe wohnten. Mein Vater kehrte, mit einer Schaumkelle bewaffnet, zurück – ich hinten auf dem Gepäckträger. Er wühlte so lange mit dem Küchengerät im Schlamm, bis die Sonne, blutorangenrot, tief über den Heideflächen stand. Die Uhr fand er nicht. Statt dessen einen schlanken Schraubenzieher, der noch jahrelang gute Dienste beim Auf- und wieder Zuschrauben defekter Stecker und Steckdosen leisten sollte.
Ich versuchte, mir Tonios Uhr in Erinnerung zu rufen. »Hatte sie ein elastisches Gliederarmband«, fragte ich, »oder eins aus Leder?«
»Das war so eine Art Bügelverschluß, den man zuklickte«, sagte Mirjam. »Ich weiß noch, daß die Uhr, die wirklich nicht für kleine Jungen gedacht war, ihm viel zu weit war. Sie haben dann beim Juwelier ein Stück herausgenommen. Später, als Tonio kräftigere Arme bekam, habe ich es wieder einsetzen lassen.«
»So ein Bügelverschluß«, sagte ich, »kann natürlich beim Aufprall aufgegangen sein. Dann ist die Uhr irgendwo auf der Straße liegengeblieben, und ein früher Spaziergänger hat sie gefunden.«
»Der ist dann aber eindeutig nicht mit reinem Gewissen nach Hause gegangen«, sagte Mirjam. »Die gesamte Kreuzung war mit gelber Farbe vollgemalt. Wenn dort eine Uhr liegt, ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die des Opfers.«
Sie redete schon ganz im Jargon der James Wattstraat.
»Und was haben sie bei der Polizei noch über das Unglück gesagt? War der Suzuki zu schnell gefahren?«
»Er fuhr etwas zu schnell, ja«, sagte Mirjam, »aber Toniohätte in dem Moment dort nicht einfach die Straße überqueren dürfen.«
»Und die Blutprobe?«
»Ja, er hatte ordentlich getrunken, ja.«
»Um diese Uhrzeit fahren ein paar tausend Studenten angetrunken durch die Stadt. Trotzdem muß man nicht unbedingt totgefahren werden.«
Das Fahrrad hatte kein Licht. In Tonios Taschen wurden kleine Lampen gefunden, die an der Kleidung oder an den Armen angebracht werden konnten. Sie waren nicht aufgeladen – vielleicht der Grund, weshalb er sie nicht angelegt hatte.
33
Ich liege in meinem naßgeschwitzten Bett und lese die Zeitung, die Balkontür geöffnet zur kühlen Morgenluft. Es ist mäßig sonnig. Ich lese, daß die Schauspielerin Patricia Neal gestorben ist. Gestern wurde bekannt, daß man
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