Tonio
oder zwei Gläsern und einer dreiviertel Portion Chow-Minh unruhig wurde, weil er rauchen mußte und uns damit nicht belästigen wollte. Hier ging er zu weit mit seiner Höflichkeit.
Ich merkte, daß mich seine Raucherei nicht losließ. Bis er fast zwanzig war und nach De Baarsjes umzog, hatte ich ihn nie mit einer Zigarette gesehen. Na schön, wollen wir sagen, er tat es außer Haus, auf Feten, »um mit den Jungs mitzuhalten«. Zu Hause pflichtete er mir jedesmal bei, wenn ich, ein Steckenpferd von mir, meinen Bannfluch dagegen aussprach. Sein geliebter Großvater Opa Piet, Raucher vom elften Lebensjahr an, war mit siebenundsechzig daran zugrunde gegangen … seine Tante Marianne kämpfte nach einem Emphysem jetzt mit Lungenkrebs … Kein Raucher konnte mehr bedenkenlos davon ausgehen, daß es ihn nicht erwischen würde.
Ich vertiefte mich in Strategien, die helfen sollten, ihn wieder davon abzubringen. Zunächst würde ich auf ihn einreden, nicht zu väterlich, eher wie ein älterer Freund … Rauchen war tödlich, das stand nicht nur zur Verschandelung des Designs auf den Zigarettenpackungen.
Plötzlich war das Bild des hochgewachsenen Dr. G. da, der Mirjam und mir diskret, aber unverblümt von Tonios Lungentrauma berichtete. In kürzester Zeit hatten sich seine gesunden Lungen in unbehandelbare Blutschwämme verwandelt – und im gleichen kurzen Zeitraum ereignete sich das jetzt, als Unterbrechung meines Gegrübels, erneut. Was jammerte ich, daß Tonio entgegen all meinen guten Ratschlägen doch zu rauchen begonnen hatte? Seine Lungen würden nie mehr die Chance bekommen, von Nikotin zerstört zu werden.
30
Wenn Tonio schwerverletzt überlebt und lange im Koma gelegen hätte, hätte er eines Tages das Bewußtsein wiedererlangen und sich entsetzt fragen können: Was ist passiert? Wo bin ich? Was mach ich hier?
Auch ein beschädigtes Gehirn kann solche Fragen produzieren. Es bleibt zumindest eine lädierte Instanz übrig, die das Unbegriffene und das Ungreifbare registriert. Bestenfalls dringt, bruchstückhaft, zu dem Wiedererwachten durch, was passiert ist oder was hätte passieren können.
Heftige Reuegefühle vielleicht. Scham.
Ich erscheine mit Mirjam an seinem Krankenhausbett. Ob er uns erkennt oder nicht, es gibt ein Bewußtsein, das uns erkennen kann . Er lebt.
Alfred Kossmann spricht in einem seiner Romane von dem großen Skandal des Daseins: daß es einem Menschen nicht gestattet ist, sein eigenes Sterben zu erleben. Tonio ist bereits jenseits dieses Skandals.
Jetzt, da er unwiderruflich tot ist, verfügt er nicht mehr über eine Instanz (das Bewußtsein), das ihn informiert: »Hör zu, Tonio, dein Leben ist zu Ende, du kannst die Dinge, die du begonnen hast, nicht zu Ende bringen.«
Tonio weiß von nichts . Mirjam und ich sowie ein paar andere wissen davon. Wir sind uns dessen bewußt, was ihm vorenthalten wird: daß er die Zukunft, die ihm – zum Teil klar, zum Teil nebelhaft – vor Augen stand, nicht erreichen kann.
Im Bewußtsein existiert einmal Erlebtes dank mentalen Wiederkäuens.
Man geht unvorsichtig, sich ständig umdrehend, den Bürgersteig entlang und stößt sich den Kopf an einem aus einem Fenster ragenden Balken. Eine kurze, grellweiße Blindheit, die unmittelbar auf den Schlag folgt. Dann Wut: Wer läßt einen Balken so weit vorstehen? Scham: Wie konnte ich nur so blöd sein? Man blickt sich um: jemand was gesehen? Man geht weiter. Neben dem äußeren Schmerz glüht unter der Gesichtshaut Scham. Der Stoß nistet sich in vielerlei Gestalt im Bewußtsein ein, das jeden Aspekt davon stets von neuem beleuchtet.
Von allen denkbaren Vorfällen ist der Tod der schwerwiegendste, der einem widerfahren kann. Aber … er ist das einzige Ereignis, das in sich selbst stockt. Für den, der dieses einmalige Ereignis erleidet, ist keine Reflexion darüber möglich. Wut, Scham, Schuldfrage, Kausalzusammenhang, Konsequenzen … zu alldem kommt es nicht. Tot ist tot.
31
Ich hatte die Lektorin gebeten, zu mir zu kommen, um mit ihr zu überlegen, wie und wann (und ob) ich meine Arbeit wiederaufnehmen könnte. Ich suchte an erster Stelle nach einer Strategie, um nicht verrückt zu werden, um die Angst zu bannen: die Furcht vor einer Zukunft nicht nur ohne Nachkommen, sondern (als direkte oder indirekte Folge davon) auch ohne feste Beschäftigung.
»Das Störende, nein, das Lähmende ist«, sagte ich, »daß ich alle möglichen Schauplätze aus dem aktuellen Roman in den letzten
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