Tonio
stimmt‘s?«)
Mirjam hatte die Tür wieder einmal nicht richtig zugemacht, so daß eine der Katzen nur dagegenzuspringen brauchte, damit sie aufging. Ich wartete mit stockendem Atem auf den Arm, der die Tür weiter aufdrücken würde. Wieder nichts. Statt dessen kam unser roter Kater Tygo im Zickzack ins Zimmer spaziert.
36
Sommer 1990 . Dem Kriegsgebiet in Loenen entflohen, versuchte ich, mein Buch in Gottes Namen dann eben im De Pauwhof abzuschließen, einer zum Untergang verurteilten Künstlerkolonie in Wassenaar, wo von einem erwartet wurde, Tee mit den Witwen am Alkohol zugrunde gegangener Bildhauer zu trinken. Mirjam und Tonio hatte ich in demHaus in der Veluwe zurückgelassen, wo sie den Launen des Vermieters und gleichzeitigen Nachbarn ausgeliefert waren, der manchmal ein ganzes Wochenende lang den Strom ausschaltete. Ich fürchtete so sehr, Tonio könne mich vergessen, daß ich jeden zweiten Tag in den einzigen Spielzeugladen Wassenaars ging, um ein Miniaturauto zu kaufen, das ich dann, zusammen mit einer Zeichnung oder Ansichtskarte, in einem luftgepolsterten Umschlag nach Loenen schickte.
Das kleine Geschäft hatte nur ein bescheidenes Sortiment. Nach wie vielen Sendungen hatte ich alle Modelle gekauft? Mirjam machte mich am Telefon diskret darauf aufmerksam, daß Tonio bereits zweimal die gleiche Stretchlimousine erhalten hatte: grau mit schwarzem Dach. Mir fiel nichts anderes ein, wie ich bei meinem Sohn die Erinnerung an mich lebendig erhalten konnte, als mit diesen Spielzeugautos.
Im De Pauwhof freundete ich mich mit dem Musikwissenschaftler Albert Dunning und der Vortragskünstlerin Maud Cossaar an. Als Mirjam mit Tonio für einen Tag nach Wassenaar kamen, hatte Dunnings Frau Jeanine ein Geschenk für den Kleinen gekauft – in ebendem Spielzeuggeschäft. Es war hübsch eingepackt, aber bereits beim Überreichen sagte Tonio leicht gelangweilt: »Oh … Auto.«
Leicht unlustig entfernte er das Geschenkpapier und stellte ein weiteres Mal nicht sonderlich begeistert fest: »Auto.«
Jeanine zeigte sich einigermaßen verdutzt, doch Albert mußte über das blasierte Verhalten des Kleinen Lords herzlich lachen. Von einem Balkon irgendwo über uns rief Maud Cossaar mit erhobenen Armen und der Diktion einer Diva aus der Zeit zwischen den Weltkriegen: »Was hast du-uu … für eine strahlende kleine Familie!«
Jeanine wußte nicht, daß Tonio dasselbe Automodell und sogar in derselben Farbe (gelb) bereits von seinem Vater erhalten hatte, in der gleichen Geschenkverpackung. Sigmund Freud zufolge haben Kinder die Neigung, ein Spielzeug aus ihrem Bett zu werfen, wenn ihre Mutter den Raum verläßt –und zwar, um sich das Gefühl zu geben, sie selbst seien es, die ihre Mutter wegschicken. Vom Wegschicken des Vaters auf die gleiche Weise spricht Freud nicht. Dennoch schien Tonio genau das im Sinn zu haben, als er entschlossen und energisch das gelbe Auto in einen der Rhododendronbüsche am Rande der Pauwhof-Terrasse warf.
So sehr wir auch im dunklen Inneren der Sträucher suchten und dabei nicht wenige Blumen zertraten, das gelbe Auto war und blieb unauffindbar. Tonio sah unseren vergeblichen Bemühungen amüsiert zu.
37
Es ist Freitagnachmittag. Zusammen mit ihrer Freundin Josje bringt Mirjam Josjes Tochter Lola auf ein Fest. Um vier Uhr wird Jenny die Fotos für ihre Portfoliomappe abholen. Verabredet ist, daß Mirjam sie ihr übergibt: Ich möchte nicht dabeisein. Sicherheitshalber habe ich die Tür meines Arbeitszimmers zum Flur geöffnet – damit ich die Klingel höre, falls Jenny zu früh kommt und Mirjam noch nicht zurück ist. Sollte diese Situation eintreten, werde ich das Mädchen über die Wechselsprechanlage bitten, unten in der Diele auf Mirjam zu warten.
Vier Uhr, Viertel nach vier: keine Klingel, und auch sonst dringt, wenn ich auf den Flur gehe, um zu lauschen, kein Geräusch aus dem Treppenhaus herauf. Ich wähle Mirjams Nummer. Mailbox. Sie ruft kurz darauf zurück.
»Ich trinke gerade noch was mit Josje in der Beethovenstraat. Jenny hat abgesagt. Blasenentzündung, genau wie damals, an dem Nachmittag mit Tonio. Morgen fährt sie in Urlaub für drei Wochen. Danach kommt sie die Fotos abholen. Hat sie versprochen.«
Die Absage ärgert mich. Ich sage: »Mach dir nichts daraus, Minchen. Ich denke, Jenny kann es noch nicht verkraften. Jedes Foto, das sie zu sehen bekommt, spricht von einemTonio knapp außerhalb des Bildes. Alles Beweise für diesen gemeinsamen Nachmittag in
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