Tonio
vor allem, na ja, wie ernst das mit Tonio war.«
35
Wir und unsere Nachforschungen. Manchmal sehe ich aus großer Entfernung, wie Mirjam und ich aufgeregt an Türen klopfen. Unsere Münder bewegen sich, und wir machen heftige Handbewegungen dazu. Ich weiß, daß wir Fragen zu Tonio in seinen letzten Tagen stellen, aber ohne Ton scheint es eher, als würden wir, von Haus zu Haus gehend, unseren Sohn persönlich einfordern. »Gib ihn zurück … wir wissen, daß er hier ist.«
Nachdem die Studenten gegangen waren, stürzten Mirjam und ich uns auf die Flaschen, was wir in Gegenwart der Limo trinkenden Mädchen nicht gewagt hatten.
»Ich bestelle gleich ein paar Pizzen«, sagte Mirjam.
Noch gieriger als getrunken wurde geredet. Jeden Tag, dreimal täglich, bildeten sich in unseren Köpfen Theorien über Tonios Verschwinden. Sie mußten alle geprüft werden.
»Hab ich dir schon von meiner Variante der verbrannten Erde erzählt, Minchen?«
»Das verheißt nichts Gutes.«
»Jeder begeht Fehler in seinem Leben. Es kommt nur darauf an, was man daraus macht …«
»Daraus lernen«, sagte Mirjam. »Das ist zumindest, was man immer hört.«
»Mir geht es jetzt darum, wie man auf diese Fehler zurückschaut. Auch wenn ich sie längst gutgemacht habe, kann ich mich bei der Erinnerung daran noch immer dafür schämen. Die ungeheure Blödheit. Sogar wenn ich ganz allein bin, kann ich dann knallrot werden, das kannst du mir glauben. Schon als Kind hatte ich die Neigung, bestimmte Riesendummheiten, die mir in Gesellschaft Erwachsener herausgerutscht waren, zwanghaft für mich zu wiederholen.Einfach, um die Scham in mir zu schüren. Vielleicht hoffte ich, mich auf diese Weise selbst zu bestrafen … mein Leben zu bessern.«
»Da kann ich ja beinahe Frieden mit all dem Blöden schließen, das du mir angetan hast.«
»Seit Tonios Tod … wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sehe ich nichts als Fehler, Schnitzer, Dummheiten. Sogar Dinge, mit denen ich damals nicht unzufrieden war und die von anderen gelobt wurden, finden inzwischen keine Gnade mehr vor meinen Augen. Und warum nicht? Weil alles, was ich je unternommen habe, auch lange vor Tonios Geburt, als Vorbereitung auf Tonios Tod gilt.«
»So streng darfst du nicht zu dir sein«, sagte Mirjam, jetzt ohne spöttischen Ton. »Das ist unmenschlich.«
»Ich kann nicht anders. So empfinde ich es. Der Tod meines Sohnes ist der Beweis dafür, daß ich immer alles falsch gemacht habe. Wenn ich auf meine Vergangenheit zurückblicke, stoße ich auf eine verkohlte Fläche. Mein Gedächtnis hat die Taktik der verbrannten Erde angewandt. Alle Segnungen, die, wie ich glaubte, mir je zuteil geworden waren, sind verbrannt. Sind unerreichbar für mich geworden.«
Mirjam protestierte nicht länger gegen diese schwarze Sicht der Dinge – vielleicht (was ich nicht hoffte) weil sie sie teilte. Ihr Blick schweifte immer häufiger zu der Stelle auf der Eckcouch, an der Tonio immer saß, wenn er auf ein Glas hereinschaute und um Tygo oder Tasja kurz zu streicheln. Ich wußte, sie würde jetzt bald zu weinen anfangen.
»Wenn ich daran denke … wie er sich dort immer hingesetzt hat«, sagte sie, und nicht zum erstenmal. »Mit Tygo auf dem Schoß, der sich dann unter seinen Händen rekelte.« Schon weinte sie. »Die Vorstellung, daß er hier nie mehr unverhofft reinspaziert kommt …« Sie stampfte auf und schrie: »Adri, es tut so weh . Hilf mir. Hilf mir doch bitte.«
Die Liste mit den Pizzen, auf der auch die Telefonnummer des Lieferanten stand, lag unten in der Diele. Mirjam verließ das Zimmer, um eine Bestellung aufzugeben. Ich saß betäubt vor Kummer, mehr noch über ihren als über meinen, da und starrte in mein fettiges Glas, als plötzlich die Wohnzimmertür aufsprang. Ich sah auf, wie so oft bei Tonios unerwarteten Kurzbesuchen. Erst war da die vage dunkle Spiegelung einer Gestalt auf dem weißen Lack der aufschwingenden Tür zu sehen, dann trat Tonio über die Schwelle. Dabei zeigte er noch immer das Kindergrinsen, wenn er sich, um seine Eltern zu necken, irgendwo versteckt hatte und auf einmal zum Vorschein kam.
(»Sag mal, hast du Tonio gesehen?«
»Nein, schon eine ganze Weile nicht mehr.«
»Ich mache mir langsam Sorgen.«
»Ich habe überall nachgesehen. Nichts. Nirgendwo.«
»Also, dann müssen wir jetzt vielleicht irgendwo anrufen.«
Das war unabänderlich der Moment, in dem er aus dem Wäschekorb sprang und schrie: »Ihr habt echt geglaubt, daß ich weg bin,
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