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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Wochen besuchen mußte. Das Krankenhaus, das Polizeirevier … Sogar das Auto, das im Buch eine entscheidende Rolle spielt, ist von derselben Marke und Farbe wie das Auto, das Tonio angefahren hat. Ein Suzuki Swift. Ein roter. Es ist nicht gerade anregend, wenn die Wirklichkeit meine sorgfältig erdachte Welt buchstäblich beiseite drückt.«
    Es war wieder ein herrlicher Sommertag. Wir saßen auf unserer Veranda unter der ausladenden Krone des verblühten Goldregens, und ich erzählte ihr, daß Tonio hier mit seinem Fotomädchen eine Pause eingelegt hatte, ein paar Tage vor seinem Tod, in dem gleichen üppigen Sonnenlicht.
    Die Lektorin schlug mir vor, erst über Tonio zu schreiben und später, wenn der Furor vorbei war, den Roman Kwaadschiks wiederaufzunehmen.
    »Bei einem requiemartigen Buch stehen zwei Möglichkeiten offen«, sagte ich. »Ich kann es in zwei, drei Jahren schreiben … oder in fünf … und dann erhält es einen retrospektiven Charakter. Dann ist es ein Rückblick auf das, was damals,vor Jahren, an Schrecklichem passiert ist. Eine Neubewertung des Kummers, wie er im nachhinein empfunden wird. Eine Schilderung, wie sich das Leben der direkt Betroffenen verändert hat. Wenn ich es dagegen jetzt schreibe, schon in diesem Sommer, wird es ein Bericht von innen. Geschrieben aus der Situation heraus, die sich kurz zuvor ergeben hat … direkt aus der Gefühlsverwirrung heraus … Das Schreiben wird dann zu einem Teil des Ringens, und umgekehrt. Die ratlosen Eltern, die die letzten Tage und Stunden ihres Sohnes rekonstruieren … weil alles von Bedeutung ist … sie klammern sich an jedes Detail …«
    Alles poetologisches Geschwätz. Es gibt keine Wahl. Ich kann nicht anders, als jetzt über ihn und für ihn zu schreiben, weil alles andere im Moment unwichtig ist. Schreiben über Tonio oder gar nicht schreiben – das ist keine Frage der Wahl. Ohne darüber nachgedacht zu haben, ohne mir einen Ruck dazu gegeben zu haben, war ich bereits dabei. Von dem Moment an, an dem es am Pfingstsonntag klingelte und ein Polizeibeamter die Worte »kritischer Zustand« benutzte, war ich dabei, mein Requiem aufzuführen – erst beschwörend, in der verzweifelten Hoffnung, ihn am Leben erhalten zu können, später am selben Tag ungläubig akzeptierend, in der verzweifelten Hoffnung, ihn mit Worten und Bildern in sein früheres Leben zurückzaubern zu können.
    Selbst in meinen schrecklichsten Alpträumen hatte ich nicht vorhersehen können, daß ich meinem eigenen Sohn einmal ein Requiem würde widmen müssen.
32
     
    »Wenn vom Fahrrad nur noch ein Stück Schrott übrig ist«, hatte ich zu Mirjam gesagt, »dann mach ein paar Fotos davon für unser Archiv. Frag die Polizei, ob sie es in den Sperrmüll tun können. Wenn du es hier in die Diele stellst … ich glaube nicht, daß ich den Anblick ertragen kann. Und die Fotos, legdie in einen geschlossenen Umschlag, bis ich soweit bin. Vergiß nicht, nach der Uhr zu fragen.«
    Weil Mirjam zu nervös war, um selbst zu fahren, machte sie sich mit Nelleke in deren Auto auf den Weg zur Abteilung Schwere Verkehrsunfälle in der James Wattstraat beim Amstel-Bahnhof. Polizeibereich, das heißt: viele defekte Parkautomaten. Nachdem sie endlich ein Ticket (oder die Hälfte davon) aus einem dieser Automaten herausgefummelt hatten, rief Mirjam den Beamten Windig an, der zuvor am Telefon versprochen hatte, sie in Empfang zu nehmen. Am Apparat war sein Kollege Hendriks, der stellvertretend für ihn nach unten kam.
    Mirjam und Nelleke erzählten später von einer labyrinthartigen Wanderung durch Flure, über Treppen, an Geländern, Stahltüren und Wänden mit aufgerollten Feuerwehrschläuchen und Löschapparaten vorbei. Auf einmal standen sie in einem hohen Raum, einem Mittelding zwischen Flugzeughangar und Parkgarage.
    »Weil ich so nervös war«, sagte Mirjam, »sah ich nur diesen einen leeren PKW in einem riesigen Raum.«
    Sie konnte nicht sagen, ob es ein roter Suzuki Swift war. Daneben gab es Ständer mit beschädigten Fahrrädern und Motorrollern, und schwitzend, wie von Radar geleitet, ging Mirjam sofort auf Jims Fahrrad zu – nicht, weil sie es erkannt hätte, sondern weil Tonios Schuhe, die Spitzen nach oben, in einer Plastiktüte am Lenker hingen.
    »Nelleke, das Rad … noch völlig intakt«, rief Mirjam. Ich konnte mir ihren verfehlten doppeldeutigen Triumph in etwa vorstellen. »So sieht doch kein Fahrrad nach einem tödlichen Unfall aus …«
    »Das nehmen wir mit«, sagte

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