Tonio
ein Heft von Roald Dahl entdeckt hat mit dem Bericht über den Tod seiner siebenjährigen Tochter, Anfang der siebziger Jahre. Patricia Neal war die Mutter des Mädchens.
Als Mirjam das Frühstück bringt, wirkt sie leicht in Panik. Als ich sie darauf anspreche, ist sie höchst erstaunt. »Ich habe gerade wieder eine Pille genommen, aber sie wirkt wohl noch nicht.« (Sie nimmt in letzter Zeit ihre Valium erst am Nachmittag.) »Um halb zehn kommt Klaas … um die Fotos von Jenny zu kopieren. Ich muß noch duschen.«
34
Um fünf Uhr eine Abordnung von Tonios Studienfreunden: drei Mädchen und ein Junge. Sie haben im Namen der gesamten Gruppe einen großen Blumenstrauß mitgebracht, ineiner Vase, Ergebnis einer Geldsammlung – und eine große Karte mit allen Namen.
Eines der Mädchen erzählt, wie sie Tonio letztes Jahr im September kennengelernt haben, in einem Grand Café am Max Euweplein. Es war am Ende der Einführungstage, deren Beginn Tonio nicht mitgemacht hatte, weil er ganztags bei Dixons arbeitete. Endlich würden sie das noch fehlende Mitglied der Gruppe kennenlernen. (Auch darin stimmten unsere Geschichten überein. Als in Nimwegen die Einführungszeit begann, arbeitete ich bei Daf in Eindhoven, um mir die Einrichtung meiner Studentenbude zusammenzuverdienen. Am ersten Oktober 1970 traf ich an der Universität ein, gerade noch rechtzeitig, um an der ersten Arbeitsgruppensitzung teilzunehmen und festzustellen, daß alle Anwesenden in den vorangegangenen Wochen bereits beste Freunde geworden waren. Das ließ sich nicht mehr nachholen.)
Weil Tonio traditionsgemäß auch diesmal zu spät kam, überlegten die Kommilitonen während der Wartezeit, auf was für einen Typen sie bei all den Personen, die die Kneipe betraten, achten müßten. Sie trugen ihre Vorstellungen von dem Neuen zusammen und kamen zu einer Art Synthese – die, wie sich herausstellte, genau stimmte.
Die vier, vor allem die Mädchen, konnten Tonios Hilfsbereitschaft, nicht nur in Studienangelegenheiten, gar nicht genug rühmen.
»Er war wirklich so nett … so freundlich.«
Mit betrübtem Kopfschütteln gedachten sie seiner. Ich erkundigte mich nach dem sogenannten »Elternabend«, dem Essen, zu dem alle Mitglieder der Studiengruppe ihre Eltern eingeladen hatten. Jetzt wurde beschämt gestöhnt. Ja, da war etwas gründlich schiefgelaufen. Die Organisatoren hatten im letzten Moment entschieden, daß das Essen in einem anderen Lokal stattfinden sollte. Die diesbezügliche Mail hatte Tonio nie erreicht. »Obwohl«, sagte eines der Mädchen, »ich hab ihn an dem Abend später noch im Atriumcafé gesehen.«
Mirjam erzählte, wie der Abend für uns verlaufen war. »Schade, daß wir euch und eure Eltern verpaßt haben, aber für uns war es ein wunderbarer Abend. Im nachhinein ganz besonders. Es war das letzte Mal, daß wir so zu dritt an einem Tisch saßen … ohne zu wissen …«
Vielleicht wegen der Tränen in ihren Augen erhoben sich die Studienfreunde bald, nachdem sie einander ein Zeichen gegeben hatten. Ich wollte nicht, daß sie gingen. Der Junge, Jörgen, war der einzige, der ein Bier angenommen hatte. Ich versuchte, ihn mit einem zweiten zum Bleiben zu bewegen, doch er lehnte ab.
»Dann gehen wir jetzt mal«, sagte eines der Mädchen.
»Noch eine Frage«, sagte ich. »Habt ihr Tonio in der letzten Zeit von einer gewissen Jenny reden hören?«
»Jenny …« Der Name wurde ein paarmal wiederholt. Sie sahen sich gegenseitig forschend an, mit zögerndem Kopfschütteln.
»Jenny … nein«, sagte Jörgen. »Jedenfalls ist in der Gruppe keine, die so heißt.«
»Sie war, wie soll ich das sagen, neu in seinem Leben«, erläuterte ich. »Niemand in Tonios nächster Umgebung scheint sie zu kennen. Wir hatten, na ja, den Eindruck, daß in der letzten Woche seines Lebens zwischen Tonio und dieser Jenny etwas am Aufblühen war.«
Wie ärgerlich, daß ich jetzt kein Foto zeigen konnte.
»In der Woche vor Pfingsten«, sagte ein Mädchen, »haben wir Tonio nicht gesehen.«
Ich ähnelte allmählich einer alten Kupplerin, aber von einer speziellen Sorte – einer, die Tonio postum mit einer Frau zu verkuppeln versuchte. Tonios Kommilitonin Claire bot an, mit Hilfe von Facebook oder einem anderen Netzwerk mehr über Jenny herauszubekommen.
»Du mußt dir keine Mühe machen«, sagte Mirjam. »Ich habe inzwischen mit ihr telefoniert. Sie ist bereit, hierher zu kommen. Wir fragen nur so ein bißchen herum. Was für eineArt Mädchen es ist. Und
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