Tonio
Zerstörungswut des Aufpralls und die Skalpelle des Chirurgenteams über Stunden hinweg erlitten hat. Wenn das stimmt, bin ich ihm meinen eigenen heutigen Schmerz doppelt und dreifach schuldig.
28
Wir fuhren vom AMC , wo er gestorben war, nach Buitenveldert, wo er begraben lag – doch wieder gelang es mir, einen Besuch am Grab im letzten Moment, als Mirjam sich in der Fred. Roeskestraat bereits entsprechend einordnete, hinauszuschieben.
»Tut mir leid, Minchen, das wird mir jetzt alles zuviel nach diesem medizinischen Gespräch. Laß uns in Gottes Namen in den Amsterdamse Bos fahren.«
»Darauf hab ich gewartet. Der Ziegenhof war immer schon der Ausweichhafen … ich meine, wenn du dich nicht auf den Friedhof getraut hast.«
»Außer zu Hause auf der Veranda gibt es keinen besseren Ort, um über Tonio zu sprechen.«
Später, beim Mittagessen auf dem Ziegenhof, teilte Mirjam mir ihre jüngste Erkenntnis mit: Tonio fuhr in der verhängnisvollen Nacht nicht auf seinem eigenen Fahrrad, sondern dem von Jim. »Das kam zwei Tage nach Pfingsten heraus, als Jim mit seinen Eltern bei uns war. Das ist mir damals vollkommen entgangen, wie so vieles.«
Ich konnte mich genausowenig erinnern. So kurz nach dem Geschehen prallten viele Details gnadenlos an unserergepanzerten Leugnung ab. Die Gier, alles wissen zu wollen, kam erst nach der Beerdigung, als wir ihn auf diese Weise in unsere Mitte zurückzuschmuggeln versuchten.
»Dann wird es aber Zeit«, sagte ich, »daß wir Jim sein Fahrrad zurückbringen. Oder … na ja, was davon übrig ist. Auch als Wrack ist es sein Eigentum. Vielleicht müssen wir ein neues …«
»Seine Eltern haben ihm schon ein neues gekauft. ›Du glaubst doch nicht, Mama, daß ich auf dem Ding noch fahren kann‹, hatte er seiner Mutter erklärt.«
»Die Polizei sagte, mit diesem Fahrrad würden, genau wie mit dem Suzuki, im Labor noch verschiedene Experimente durchgeführt.«
»Das Fahrrad steht in einem Lager der Wache in der James Wattstraat«, erwiderte Mirjam. »Ich habe angerufen. Ich habe sogar schon einen Termin, an dem ich die Sachen abholen kann. Fahrrad, Kleider, alles.«
»Wie kannst du das bloß hinter meinem Rücken …«
»Du bleibst zu Hause. Und schreibst. Ich geh mit Nelleke hin.«
»Vergiß nicht, nach der Uhr zu fragen.«
»Mir graut mehr vor den Schuhen.«
Eine ganze Weile saßen wir schweigend am Terrassentisch und schauten voneinander weg zu den Hähnen und Hühnern, doch selbst die legten heute wenig Aktivität an den Tag. Ein Zwerghuhn wusch sich im feinen, grauen Sand unter der achteckigen Sitzbank, die rings um einen Baum lief.
»Und sein eigenes Rad?« fragte ich nach einer Weile.
»Beim Hauptbahnhof«, sagte Mirjam. »Wie so oft. Dort sind schon eine Menge Fahrräder von ihm weggeräumt worden.«
29
»Och, ich qualm ab und zu mal eine in der Kneipe«, hatte Tonio vor Monaten auf meine Frage geantwortet, ob er denn nun rauche oder nicht. »Nur so, um mit den Jungs mitzuhalten. Ich weiß auch nicht, warum.«
Hinterher kam es mir so vor, als habe er die Frage (die übrigens zu sehr klang nach: du doch nicht) schon eine Weile kommen sehen und deshalb die Antwort in ihrer ganzen Achtlosigkeit vorbereiten können. Er wollte seine Eltern schonen. Hätte er zugegeben, daß es mehr war als ab und an ein Zug in der Kneipe, dann hätte ich sagen können: »Hör zu, Tonio, ich habe dich bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr vor dem Rauchen behütet. Ich finde es nach wie vor blöd, aber das ist jetzt deine Sache. Zünde dir ruhig eine an, wenn dir Mirjams Wodka Orange dann besser schmeckt. Wir machen nachher einfach ein Fenster auf.«
Aus einem Gespräch zwischen Jim und seinem Vater, die sich kurz nach Pfingsten mit dem Rätsel von Tonios nächtlichem Umweg beschäftigten, hatte ich etwas von »Zigaretten holen am Leidseplein« aufgefangen, aber das konnte genausogut bedeuten: ein Päckchen für Jim mitbringen. Bei den Fotos, die um diese Zeit im Internet auftauchten, Fotos von einem Tonio, der theatralisch eine brennende Zigarette (oder einen Joint) hochhielt, dachte ich noch an eine Pose, doch Dennis und Goscha hatten mehr oder weniger bestätigt, daß Tonio regelmäßig rauchte. Ein anderer Freund legte als letzten Gruß eine Filmrolle, eine Dose Bier und ein Päckchen Zigaretten auf Tonios Grab.
Er wollte seine Eltern schonen, verdammt, und dadurch hatte er sich mehrmals ihrer Gesellschaft entzogen. Ich vermutete jetzt, daß er bei jedem Besuch nach einem
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