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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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gefühllos, aber an Deutlichkeit ließ es nichts zu wünschen übrig.«
    »Das ist ja die Höhe«, sage ich. »Die fünfzigjährige Tochter trauert über den Verlust ihres einzigen Kindes, und dann ungerührt fragen, ob du schwanger bist. Eine Fehlinterpretation, aber mit Aphasie hat das nichts zu tun.«
    Ich sehe mein liebes Minchen an, die mit der Rückseite ihrer Augen in unergründliche Gedanken starrt. Was sie sieht, würde ich gern mit Hilfe ihres Gesichtsausdrucks rekonstruieren, ohne danach zu fragen. Wenn sie so weit weg ist, kann sie nur bei Tonio sein. Ich stelle mir vor, daß sie aufdie biologische Geschichte ihres Lebens blickt. Diese ganze physische Vorbereitung … Die Veränderungen in einem Mädchenkörper. Die erste Periode und all die Male danach. Die sich unentwegt weiterdrehende Uhr der Ovulation. Die sexuelle Blüte. Die unerwiderten Verliebtheiten. Der Liebeskummer. Die erwiderten Verliebtheiten, und zum Schluß doch der Liebeskummer.
    Die große Liebe.
    Aller empfangene und durch Verhütung abgewehrte Samen. Und dann aller Samen, der nicht durch Empfängnisverhütung sabotiert wird. Die negativen Tests. Der eine positive Test.
    Alle Stadien der Schwangerschaft, ein Dreivierteljahr lang. Die Sorge, es könnte eine Fehlgeburt werden. Das Einrichten eines Zimmers für das Neugeborene. Der Countdown. Die Wehen. Die Schmerzen. Die Freude. Die Angst.
    Und das alles, um diesen einen in den Armen zu halten, später an der Hand zu führen und ihm zu helfen, heranzuwachsen. Und das alles, um diesen einen wieder zu verlieren, für immer, wodurch der ganze Prozeß von Natur und Geist nur dazu gedient hat, eine Illusion zu wecken und wieder zu zerstören.
    Sie sieht auf, begegnet meinem prüfenden Blick. »Was ist?«
    »Woran hast du gedacht?«
    »Na, was glaubst du?«
    Ich bin in diesem Jahr einunddreißig Jahre mit Mirjam zusammen, davon dreiundzwanzig verheiratet. Ich kam mit ihr ins Gespräch auf der Fete zu ihrem zwanzigsten Geburtstag. Kommenden Herbst wird sie einundfünfzig. Ich habe sie in allen erdenklichen Stimmungen erlebt, ob sie nun menstruierte oder nicht, so wie sie all meine Launen hat ertragen müssen, ob ich verkatert war oder nicht. Wie oft fragt ein Mann im Laufe dreier Jahrzehnte seine Liebste beim Anblick ihres erbosten oder tränenüberströmten Gesichts, was ihr fehlt?
    »Du schaust so düster.« Wie oft hat sie das im Laufe all derJahre zu ihm gesagt? »Ich seh mir nicht wieder den ganzen Abend diese böse Miene an.«
    Seit dem Schwarzen Pfingstsonntag brauche ich Mirjam diese Frage nicht mehr bei jeder Denkfalte zu stellen und sie mir auch nicht, wenn ich kurz die Mundwinkel hängen lasse. Das wird für unsere ganze gemeinsame Zukunft gelten: Wir wissen, was dem anderen fehlt. Gedankenlesen ist nicht so schwer, wenn der Gedanke für immer und ewig fixiert ist.
    »Minchen, wir haben doch vor Jahren im Fernsehen eine Doku über einen italienischen Gynäkologieprofessor gesehen … weißt du noch? Er leitete eine Art Luxusklinik, in der er Frauen nach der Menopause zu einer Schwangerschaft verhalf. Bis sechzig, fünfundsechzig konnten sie zu ihm kommen. Er verpaßte ihnen eine Fruchtbarkeitsbehandlung. Er erntete viel Kritik von seiten der Medizinethik, aber aus der ganzen Welt kamen sie zu ihm. Frauen, die nach ihrer aufreibenden Karriere noch einen Kinderwunsch hatten … oder erst in späterem Alter der Liebe ihres Lebens begegnet waren …«
    »Verstehe«, sagt Mirjam. »Dir tut meine Mutter so leid, daß sie sich mit diesem Schwangersein vergaloppiert hat … und jetzt willst du, daß ich mich in dieser italienischen Klinik behandeln lasse. Ich frage mich übrigens, ob das Ding noch existiert. Ich schau gleich mal im Internet nach.«
    »Das ist nur ein Tagtraum, Minchen. Ich möchte, daß du eben mal mitträumst … was es uns bringen würde.«
    »Viel Schönes und noch mehr Elend.«
    »Ich könnte noch vor meinem achtzigsten Lebensjahr ein weiteres Mal erleben, daß mein Kind einundzwanzig wird«, sage ich. »Du bist dann erst Anfang siebzig. Versetz dich da mal rein.«
    »Ich versetze mich rein. Wir könnten alle Stadien von Tonios Entwicklung noch einmal mitverfolgen. Wunderbar. Und danach? Tonios Zukunft konnten wir nicht erleben. Keinen Studienabschluß, keine berufliche Laufbahn, keineHochzeit, keine Enkelkinder, kein … gar nichts. Aber wenn wir demnächst hochbetagt sind, wieviel Zukunft von Tonios Nachfolger würden wir dann noch mitbekommen? Vielleicht genauso wenig.

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