Tonio
Besten Dank für das Angebot, Adri, aber lieber nicht.«
Hierauf fällt mir nicht gleich eine Antwort ein. Und dabei hat sie die unvermeidlichen Ängste noch nicht einmal genannt, die gleichfalls zu einem solch zweiten Fall von gefährlichem Heranwachsen gehören. Oh, es würde alles noch viel, viel schwerer werden als bei Tonio, denn unsere Ängste würden durch seinen verhängnisvollen Tod vollständig gerechtfertigt sein. Der Neue würde also doppelt zu leiden haben unter dem unbekannten Vorgänger, dem verschwundenen Bruder. Das Kind hätte kein Leben zwischen den beiden alten Bodyguards, die sich als seine Eltern ausgäben.
»Schön, daß du meinen Gedanken kurz gefolgt bist, Minchen. Den Termin mit Professor Antinori nehmen wir also nicht wahr.«
»Das heißt wohl, daß du dich für eine zweite Brut in einem anderen Nest entscheidest …«
»Jetzt hör endlich auf mit dieser zweiten Brut«, sage ich. »Dafür braucht es zwei. Oder nicht?«
»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.«
»Ich will diesen Weg nicht. Ich will nicht einmal diesen Willen. Hör zu, Minchen … daß Tonio so unwiderruflich verschwunden ist, verleiht das Gefühl einer totalen Entmannung. Durch seinen Tod habe ich unendlich viel verloren. Eine große Liebe, meinen besten Freund, das Herz meiner Zukunft. Sogar eine männliche Muse. Und ja, auch meine Nachkommenschaft. Die Aussicht auf ein Enkelkind, das ich vielleicht in den Armen hätte halten dürfen. Von apokryphen kleinen van der Heijdens, wo auch immer auf dieser Welt, ist mir zumindest nichts bekannt. Das einzige Resultat meiner männlichen Bemühungen auf dieser Erde war Tonio.«
»Weißt du noch, was du immer gesagt hast, in Tonios ersten Jahren, wenn wir gefragt wurden, ob wir noch mehr Kinder wollten? ›Nein‹, hast du dann gesagt, ›die Vaterrolle paßt nicht zu mir, aber ich mußte es ein mal ausprobieren. Ich könnte nie sterben, ohne ein mal Vater geworden zu sein.‹ Das hast du gesagt.«
»Ausprobieren … falls ich dieses Wort verwendet habe, dann besitzt es im nachhinein einen unheilvollen Klang. Als ob es ein einmaliges Experiment wäre, das gelingen oder scheitern könnte. Je nachdem. Gut, ich habe die Vaterschaft ausprobiert. Und mit welch glänzendem Resultat. Jetzt ist er weg. Der Junge, der Mann, der alles von mir übernehmen sollte. Er läßt mich ohne Erben zurück. Hier stehe ich, ein nachträglich sterilisierter Vater … Du brauchst übrigens nicht zu denken, daß ich mich immer nur als künftigen Großvater gesehen habe. Eigentlich selten. Durch Tonio, wie er sich mir gegenüber verhielt, konnte ich mich weiterhin jung fühlen …«
»Die zweite Brut«, sagt Mirjam. »Du redest darum herum.«
»Minchen, ein für allemal … ich besitze nicht den Instinkt eines Stammeshäuptlings, der seinem zu guter Letzt erstgeborenen Sohn drei, vier Ehen opfert … und der danach bei allem acht Generationen weiterdenkt. Ich werde mir wirklich kein neues Nest einrichten. Dafür könnte ich alle möglichen Gründe anführen. Daß ich damals, ‘88, mit meinen sechsunddreißig Jahren schon ein später Vater war, zum Beispiel. Oder daß ich für neue Nachkommen von Anfang an ein Opa wäre … Nein, der wahre Grund ist, daß ich bei dir bleiben will. Daß ich mit dir mein Leben beenden will. Unsere Namen werden demnächst auf Tonios Grabstein miteinander verbunden. Wir haben gemeinsam einen verstorbenen Sohn. Wir werden beide kinderlos sterben.«
»Ich habe solche Angst«, sagt Mirjam.
»Kinderlos … und auch wieder nicht. Daß wir fast zweiundzwanzig Jahre lang Tonios Eltern waren, ist unauslöschbar. Wir haben bis zu unserem Tod die Aufgabe – nein, nicht die Erinnerung an ihn lebendig zu erhalten, sondern ihn selbst warm und lebendig zu halten. Dafür brauche ich dich. Und du mich. Wir sind die Erben der Person, die er war. Die Testamentsvollstrecker seines Lebens, seiner Werke, seiner Worte … Aber das Wichtigste ist, daß wir ihn für immer festhalten. Nur so läßt er sich nähren. Mit Liebe, mit Erinnerungen. Von wegen zweite Brut. Tonio bleibt unsere Nachkommenschaft.«
11
Ich rufe meine Schwiegermutter im Krankenhaus Onze Lieve Vrouwe an, die an diesem Tag fünfundachtzig wird. Wider Erwarten nimmt sie den Anruf entgegen, doch ihre Stimme ist kaum hörbar. Wenn ich die Teile in eine Folge bringe, die ich zu verstehen glaube, kommt heraus: »Ich bin alt. Für mich ist das alles nicht mehr nötig. Ihr seid noch jung … ich hoffe so, daß ihr es
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