Tonio
verzweifelten Bitterkeit ein verlockender Gedanke. Im nächsten Augenblick wehre ich mich dagegen. Dieses eine, unersetzliche Leben muß zu Ende gelebt werden, bei bestmöglicher Entwicklung all meiner Kräfte und Fähigkeiten.
Aber … wenn ich mich für letzteres entscheide, muß ich auch im Namen von Tonio leben, der es nicht mehr aus eigener Kraft kann. Ich muß, unter Einsatz all meiner Errungenschaften, zeigen, wie besonders sein Leben war und wie besonders dessen Bedeutung noch immer ist . Das wiederum heißt, daß ich über meine bestehenden Fähigkeiten hinaus neue Techniken entwickeln muß – um ihn nicht nur lebendig zu beschreiben, sondern ihn in seiner ganzen Lebendigkeit zurückzuholen.
5
Man kann die Welt aussperren, sosehr man will, es bleiben stets nicht abdichtbare Ritzen, Löcher, Lecks. So lassen Familienbande sich nicht ignorieren. Hinde hält sich auf Abruf bereit, drängt sich aber nicht auf. Ich verspüre ab und an Bedürfnis nach dem zuhörenden Ohr meines Bruders. Seit Mirjam ihm das einmal gesagt hat, ruft er regelmäßig an. Der bescheidene Natan wartet manchmal wochenlang auf einen Anruf von mir und ruft dann eben selbst an – immer kurz, aus Angst, zuviel von meiner Zeit mit Beschlag zu belegen. Und dann gibt es noch meine Schwiegermutter.
6
Das Verhältnis zwischen Mirjam und ihrer Mutter ist seit vierzig Jahren latent schlecht. Mit meinem Eintritt in ihr Leben vor dreißig Jahren wurde es nicht besser, doch durch meine (damals noch) versöhnliche Haltung trat die schlechteBeziehung nicht zutage. Im nachhinein betrachtet, hätte ich den schwelenden Moorbrand lieber schüren sollen, das hätte, notfalls mit großem Geschrei, bei allen möglicherweise für größere Klarheit gesorgt.
Tonios Ankunft lenkte die Aufmerksamkeit der Mutter und der Tochter von viel unverarbeitetem Konfliktstoff ab (obwohl Mirjam behauptet, ihre Milch sei radikal versiegt, als sie sich in ihrem Elternhaus mit dem Baby in ihr ehemaliges Zimmer zurückzog, das so hellhörig war, daß sie als Kind ihre Eltern im angrenzenden Raum sich lieben und streiten hören konnte – nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge). Wir gaben Tonio oft in die Obhut seiner Großeltern. Erst ungefähr fünfzehn Jahre später, als Mirjam über ihre Kindheit und Jugend zu schreiben begann, lösten sich die Schlammströme. Sie versuchte, die Poesie ihrer Kinderjahre wiederzufinden, und hob viel giftmüllverseuchten Boden aus. Das Verhältnis verschlechterte sich rasch, nicht bloß unterschwellig. Wies bemühte sich, beispielsweise mir gegenüber, verzweifelt, die rabiaten Ausfälle ihrer Tochter als resolutes Auftreten zu deuten: »Mirjam kann manchmal hart sein, aber sie bekommt alles auf die Reihe.«
Einer der heftigsten Vorwürfe von Mirjam ihrer Mutter gegenüber lautete, sie habe immer genau gewußt, wann sie zusammenbrechen müsse: stets unmittelbar vor für Mann und Töchter wichtigen Ereignissen. Ich erinnere mich, daß ich für acht Wochen ein Hotel in Positano gebucht hatte, um dort an einem Buch zu arbeiten. Am Tag meiner Abreise hatte meine Schwiegermutter einen Nervenzusammenbruch: Natan kam, um uns, bleich wie Elfenbein und selbst beinahe kurz vor dem Zusammenbrechen, darüber zu informieren. Als sie im vergangenen Jahr erfuhr, daß Mirjam und ich für drei Monate ein Haus in Lugano gemietet hatten, mußte sie in die Valeriusklinik eingeliefert werden. Ich will damit nicht sagen, daß sie ihre mentale Verfassung vortäuschte, aber sie konnte sie offenbar in eine Richtung steuern, daß ihr Zusammenbruch die theatralischste Wirkung erzielte. Ihr Nervenkostüm machte sie, alles in allem, zu der Vollblutschauspielerin, die sie war, einer schrillen, händeringenden Tragödin.
Zwischen den historischen Zusammenbrüchen hielt sie ihre Nerven durch eine ganze Serie kleiner Kollapse im richtigen Reizzustand. Eigentlich benahm sie sich die meiste Zeit wie jemand, der jeden Moment von der Schwarzen Woge erfaßt werden kann. Jahrelang hat sie mich, wenn Mirjam und ich freitags abends bei ihnen aßen, über mein Tun ausgefragt und vor allem, was es materiell eintrug. Schließlich mußte ich ihre Tochter unterhalten und ihr ein möglichst gutes und angenehmes Leben bieten. Sie saß dann vorn auf der Sesselkante und unterzog mich gezielten Fragen, die sich gewaschen hatten. Das Lästige war nur, daß sie genau dann, wenn ich meine Antwort zu formulieren begann, aufsprang, um in der Küche das Gas unter der Hühnersuppe
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