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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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schafft … daß du eines Tages wieder schreiben kannst …«
    Nach der x-ten Wiederholung gleichlautender Satzfragmente sagt sie, auf einmal gut verständlich: »So, jetzt leg ich auf, ich hab nämlich Besuch … und auf dem Gang steht auch noch jemand. Danke für die Blumen.«
    Daß die Besucher sich bei ihr drängeln, ist nicht wirklich glaubhaft. Vielleicht ist es ihre Art, ihre Unzufriedenheit darüber zu äußern, daß wir nicht gekommen sind. Und die Nahrungsverweigerung: Hinde berichtete neulich, ihre Mutter habe gesagt, sie habe »doch wieder mal Appetit auf Pralinen«.
12
     
    Zum Glück mußten wir nicht nach Jenny suchen und sie unter Druck setzen, damit sie ihre Geschichte erzählt. Genaueinen Monat nach dem abgesagten Besuch und eine Woche nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub meldete sie sich telefonisch bei Mirjam. Sie verabredeten sich noch einmal.
    »Ich werde dafür sorgen, daß die Fotos bereitliegen«, versprach Mirjam.
    »Die Fotos sind für mich nicht das Wichtigste«, sagte Jenny.
13
     
    Als ob aus diesem Anlaß der Sommer noch einmal aufflammte: An einem solchen Tag voll wirbelnden Sonnenlichts lernten wir Jenny persönlich kennen.
    Trotz der Hitze, die unter dem Flachdach fast unerträglich war, hatte ich einen großen Teil des Tages in meinem Zimmer im dritten Stock an diesem Requiem gearbeitet. Es nahm immer mehr die Form einer krimiähnlichen Rekonstruktion an, obwohl kein private eye oder Kommissar Maigret am Werk war. Ein whodunit konnte man es schwerlich nennen. Ja, wenn sich das Schicksal am Schluß als der Täter herausstellen würde. Die ratlosen Eltern selbst hatten sich an die Aufdeckung der Ereignisse gemacht. Das Was , das Wie . In dieser Reihenfolge.
    Ich hatte die Ungewißheit in den Stunden vor Tonios Tod beschrieben, das Sterben selbst, das Entsetzen, die Beerdigung, die Gespräche mit den Freunden, die ihn in seiner letzten Nacht erlebt hatten, die Erläuterungen der Polizei und des Unfallchirurgen. Ich hatte von der Suche nach seinem Fahrrad, seinen Kleidern, seiner Uhr, seinen Kameras, seinen Fotos berichtet. Alles war zur Sprache gekommen, außer dem Gespräch mit dem fotografierten Mädchen.
    Ich schaltete den Ventilator aus, ich war es leid, ständig wegflatternde Manuskriptseiten einzusammeln. Ich hatte noch überlegt, Tonios Vitrine unten mit den vulkanischen und sonstigen Steinen zu plündern, um genügend Papierbeschwerer zu haben, fürchtete jedoch, beim Anblick all dieser von Tonio ausgestellten Mineralien und Halbedelsteine keinen Buchstaben mehr zu Papier zu bringen. Aus dem gleichen Grund hatte ich die Markise über dem Balkon nicht heruntergelassen: zu viele Assoziationen an das letzte Mal, als ich Tonio gesehen und gesprochen hatte.
    Um fünf Uhr würden wir, wenn nichts dazwischenkam, Jenny endlich zu Gesicht bekommen. Kein Wunder, daß das Schreiben an diesem Nachmittag so mühsam ging. Ich konnte weiterhin der Hitze die Schuld geben, doch ich brauchte Jenny, um weiterzuschreiben. Wenn sie einige Fragen beantwortet hatte, die mich quälten, war ich vielleicht in der Lage, mein Requiem für Tonio abzuschließen, bevor ich daran zugrunde ging.
    Gleichzeitig sah ich mit an Abscheu grenzendem Widerwillen der Begegnung und dem Gespräch entgegen. Wer garantierte mir, daß ich nicht gerade durch Jennys Enthüllungen zusammenbrechen würde?
    Die Klavierklänge meines Handys. Mirjam. »Nicht zu heiß da oben?«
    »Ich wollte gerade nach unten gehen.«
    »Heute bringe ich meinen Vater etwas früher ins Beth Shalom. Ich bin dann rechtzeitig zurück, um das Mädchen in Empfang zu nehmen.«
    »Ich finde es schwierig.«
    »Was glaubst du – ich auch.«
    Es war Viertel vor vier. Lange genug hier oben geschwitzt und gestunken. Unter der lauwarmen Dusche dachte ich an Tonio und die Mädchen. Daran, was Jim und Dennis darüber berichtet hatten: daß die Mädels Tonio vor allem in letzter Zeit sehr beschäftigten … daß er sie, seine Freunde, um Rat gefragt hatte … Wieder regte ich mich über Dinge auf, die ihn nichts mehr angingen. Probleme, die ihn nicht länger berührten.
    An sexueller Aufklärung hatte es nicht gemangelt. Sonstige Schwierigkeiten, hatte ich ihn darauf genügend vorbereitet? Prüderie hatte es zwischen ihm und mir nie gegeben, wenngleich wir es nicht übertrieben und aus unserem Haus kein Nudistencamp machten. Wenn er mich als kleines Kind nackt sah, rannte er lachend durchs Haus und rief immer wieder hänselnd: »Boh, was für‘n großer … boh,

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