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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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kleiner zu drehen oder den Latkes-Teig zu rühren, damit sich keine Klumpen bildeten.
    Auch ihre Rückkehr auf die Sesselkante erfolgte nach einem festen Muster. Mit der rechten Hand machte sie eine schnelle Putzbewegung über ihre Nase, wie manche rührenden Nagetiere, die aber meist mit beiden Pfoten zugleich. Dieses nasenpolierende Streicheln war stets der Auftakt zu dem gleichen Ausruf: »Hört euch das an …!«
    Und dann folgten halb hysterische, warnende Ausführungen über die Ränke und Tücken des Lebens. Die Antwort, die sie von mir verlangt hatte, spielte dabei offensichtlich keinerlei Rolle. Durfte ich sie ganz ausnahmsweise doch aussprechen, um ihr klarzumachen, daß meine Anstrengungen durchaus zu einem gewissen Wohlstand führten, dann platzte sie jammernd mittendrin los: »Wenn das nur so bleibt … wenn es bloß nicht wieder einbricht!«
    Als ich ihr, Jahre später, mit meinem Einkommen zu imponieren versuchte, indem ich beiläufig mitteilte, zwei Dritteldavon gingen an den Fiskus, jammerte sie, so einen Betrag könne ich doch nie aufbringen. Ohne ein Wort entgegnen zu können, wurde ich auf der Stelle von ihr für bankrott erklärt.
7
     
    Seit Tonios Beerdigung will Mirjam ihre Mutter vorläufig nicht mehr sehen, und das liegt nur zu einem geringen Teil an der Art und Weise, wie sie beim anschließenden Beisammensein meinen Schwiegervater behandelte.
    »Ich beschäftige mich mit Tonio und mit niemandem sonst«, sagt Mirjam. »Ich versuche zu überleben.«
    Weil mir, bei allem Widerstreben, Wies doch leid tut, rufe ich sie von Zeit zu Zeit auf ihrem Handy an. Wenn sie nicht drangeht, hat es keinen Sinn, eine Nachricht zu hinterlassen, sie weiß nicht, wie man die Mailbox abhört. Geht sie dran, jammert sie sofort los, heulend, so daß ich sie kaum verstehe. Ihre Stimme quietscht und schnarrt und krächzt.
    »Tonio, so ein guter Junge … warum? Warum?« Das verstehe ich jedesmal.
    Ich gestehe, meine Gefühle sind widersprüchlich. Ich sehe die brutale Miene vor mir, mit der sie bei der Beerdigung ihren Ex-Mann ignorierte, und gleichzeitig denke ich: Tonio war ihr einziges Enkelkind, sie hat ihn versorgt, Tonio kümmerte sich (gegen Bezahlung) um ihren kleinen Garten, Tonio hat ihr das Handy eingerichtet.
    Weil sie alles endlos wiederholt, verstehe ich mit der Zeit doch einiges. »Und du … du kannst jetzt bestimmt überhaupt nicht mehr schreiben, nicht?«
    Ich versichere ihr, ich sei am Schreiben. Über Tonio.
    »Ich hoffe doch so, daß du irgendwann wieder schreiben kannst. Und Mirjam, wie geht‘s der? Schafft ihr es gemeinsam? Mirjam ruft gar nicht mehr an …«
    »Mirjam beschäftigt sich nur mit Tonio. Sie braucht ihre ganze Kraft, um mit dem Schrecklichen zurechtzukommen.«
    »Das verstehe ich … das verstehe ich ja. Aber ein mal wird sie noch zu mir kommen müssen. Wenn ich sterbe.«
    Das wiederholt sie, fast triumphierend, in jedem Telefongespräch. Oft sagt sie: »Ich will nicht mehr … ich will nicht mehr leben. Ich gehe zu Tonio.«
    Vorgestern besuchte uns Hinde. Ihre Mutter hat beschlossen, aus dem Leben zu scheiden, und zwar bald. Sie versucht es durch Verweigerung. Keine Medikamente mehr, nur Morphium gegen die Schmerzen. Essen und Trinken lehnt sie ab.
    Mirjam ist außer sich. »Sie benutzt Tonios Grab als letzte Bühne … um sich noch einmal aufzuspielen. Keinen Moment lang denkt sie an mich … zum Beispiel daß ich dabei bin, mit Tonios Tod zu Rande zu kommen. Sie bricht in diesen Trauerprozeß ein. Erpressung ist das, Erpressung. Ich nehme eine Zeitlang keinen Kontakt zu ihr auf, und jetzt will sie mich zwingen , zu ihr zu gehen. Was hat sie am Telefon gesagt? ›Aber ein mal wird Mirjam noch zu mir kommen müssen. Wenn ich sterbe.‹ Genau. Jetzt muß ich hin. Letzter Zusammenbruch. Zwischen Tonio und mir. Dann hat sie ihren Willen durchgesetzt.«
    Auf einmal hat sich der Schwerpunkt verlagert. Gipfelgespräche zwischen den beiden Schwestern. Beratungen mit dem Psychiater meiner Schwiegermutter.
    »So schafft sie es«, ruft Mirjam aus, »daß ich jetzt den ganzen Tag an sie denke. Statt an Tonio und daß ich ihn so fürchterlich vermisse.«
8
     
    Weil Mirjam trotz der angekündigten Nahrungsverweigerung noch immer keinen Kontakt zu ihrer Mutter wünscht, rufe ich Wies etwas häufiger an, ungefähr einmal die Woche. Wenn sie nicht drangeht, bekomme ich nur ihre Mailbox, auf der sie sich lediglich mit ihrem Atemgeräusch meldet,das unverfälscht das ihre ist. So habe ich

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