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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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entdeckt, daß auch die menschliche Atmung einen unverwechselbaren Fingerabdruck besitzt.
    Wenn sie drangeht und ich meinen Namen nenne, fängt sie sofort laut zu lamentieren an.
    »Es gibt keine Minute, in der ich nicht an ihn denke … ich stehe auf damit und gehe damit zu Bett … Ich will nicht mehr leben. Ich will bei ihm sein. Ich hoffe, ich sterbe bald. Und ihr … schafft ihr es? Mirjam will gar keinen Kontakt mehr mit mir. Ich finde das ganz schlimm, aber ich verstehe es auch. Ich hoffe nur …«
    Aufgrund ihres schlechten Allgemeinzustands hat sie eine Gürtelrose entwickelt.
    »Gürtelrose wird auch Sankt Antoniusfeuer genannt«, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen, und dann weint sie erst richtig.
    »Der liebe Tonio … er ist da irgendwo. Er versteckt sich … er gibt mir alle möglichen Zeichen. Sankt Antoniusfeuer. Ich hoffe, daß ich bald bei ihm bin.«
9
     
    Ich kenne niemanden, der seine Träume so ernst und oft so wörtlich nimmt wie Mirjam. Mißverständnisse am Tage lassen sich mit ihr ziemlich schnell beheben, aber nicht die nächtlichen. Heute morgen erzählte sie mir vorwurfsvoll, fast in Tränen, sie habe »ganz schlecht« von mir geträumt. Wenn sie so etwas sagt, in einem derartigen Ton, meint sie, daß ich ihr einen schlechten Traum verschafft habe.
    »Ausgerechnet jetzt«, fauchte sie mich an. »Wie kannst du nur.«
    »Was meinst du genau«, fragte ich. »Dann kann ich meine Missetat zugeben.«
    »Du warst zu einer anderen Frau übergelaufen.«
    Sie sah mich böse an. Für sie trug ich zweifellos die volle Verantwortung für mein Verhalten während ihrer REM -Phase.
    »Such bei dir selbst«, sagte ich. »Es ist einfach die Angst, ich könnte ausgerechnet jetzt mit einer zweiten Brut anfangen. Ich finde das Wort scheußlich, aber so hat Flip es genannt, als ich ihm begegnete und er den Kinderwagen schob. ›Tja, zweite Brut, nicht wahr?‹«
    »Es beschäftigt dich also. Eine zweite Brut. Meine Träume sagen mal wieder die Wahrheit.«
    Ich sah Mirjam nach, wie sie mit kleinen, wütenden Schritten und schwingenden Brüsten (sie trug noch keinen BH ) im Schlafzimmer auf und ab ging. Unsere Trinkerei jeden Abend mußte ein Ende haben, und zwar bald. Wir gingen beide auf. Ich hatte dieses Problem schon seit Jahren, aber auch bei Mirjam stülpten sich jetzt Bauch und Magen immer weiter vor. Ich mußte mit gutem Beispiel vorangehen und als erster das Glas stehenlassen.
    »Minchen, wart doch mal.«
    »Ich geh duschen. Ich muß gleich mit Hinde zu meiner Mutter, ja? Phantasier du in aller Ruhe weiter von deiner zweiten Brut.«
    Meine Schwiegermutter lag inzwischen mit ihrer Gürtelrose im Krankenhaus. Man hatte sie eingeliefert, nachdem sie in ihrem Heim splitternackt auf dem Gang gefunden worden war. Völlig verwirrt. Ich wußte, daß es eine schwere Aufgabe für Mirjam war, die seit Tonios Tod eine richtige Phobie ihrer Mutter gegenüber entwickelt hatte. Früher zuviel passiert. Sie ging hauptsächlich mit, um ihre Schwester zu entlasten.
    Nach dem Chaos widersprüchlicher Gefühle in den ersten Wochen nach Pfingsten hatte ich beschlossen, in meiner Selbsterforschung so gnadenlos wie möglich zu sein – eine Schonungslosigkeit, die mit der Zeit vielleicht Klarheit über meine gegenwärtige und zukünftige Situation würde schaffen können. Bei dieser Introspektion war die Frage nach einer zweiten Brut, wie bei Flip, noch nicht aufgetaucht. War mein Verlangen nach Nachkommenschaft, nun, da sie mir in der Person Tonios genommen worden war, so stark, daß ich mich an eine junge, fruchtbare Frau binden könnte? Offenbar brauchte ich die Träume meiner Ehefrau, um mir diese Frage zu stellen.
    Mit dem Ohr folgte ich Mirjam von der Duschzelle zu Tonios Zimmer, wo sie sich ankleidete. Zehn Minuten später die laute Klingel: Hinde. Frauenstimmen, abgeschnitten vom Dröhnen der Haustür. Ich hatte gehofft, sie würde mir noch eben tschüs sagen, um mir zu zeigen, daß es auch für sie nur ein Spiel war, eine gespielte Entrüstung. Aber nein, mit ihren Träumen war nicht zu spaßen.
10
     
    »Wie ging‘s deiner Mutter?«
    »Sie war völlig verwirrt. Zumindest hatte es den Anschein. Sie starrte hauptsächlich vor sich hin. Mit diesen harten Augen. Ab und an gab sie irgendein deplaciertes Wort von sich. Die Ärzte sind der Meinung, sie sei zeitweise aphatisch. Ich hab da so meine Zweifel. Plötzlich schnauzte sie so was wie: ›Du bist dicker geworden … bist du etwa schwanger?‹ Hart und

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