Tonio
Reise war er untröstlich.
Ich frage mich noch immer, was ihn damals so aus der Fassung gebracht hat. War der im Bild verarbeitete Schnuller ein realistisches Detail zuviel, wodurch es schien, als habe sich der kleine Junge Tonios Privilegs bemächtigt? Als Tonio fünfzehn, sechzehn war, erzählte ich ihm die kleine Geschichte. Ich fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, was seinen großen Kummer verursacht habe. Schwierig dabei war, daß er in dem Alter jede Frage meinerseits als Klassenarbeit zu betrachten schien.
»Ich weiß echt nichts mehr aus der Zeit, als ich klein war«, sagte er, wobei er versuchte, einen Turm aus Münzen auf seinem hin und her schwingenden Knie zu balancieren. »Vielleicht fand ich einfach nur, daß die Zeichnung mir nicht ähnlich sah.«
15
Auf dem kleinen Schrank im Flur lag ein Stapel Post, dem ich schon von der halben Treppe aus ansah, daß es Kondolenzbriefe waren. Sogar unter den mörderischsten Umständen vermochte der Mensch offenbar noch neue Fähigkeiten zu erwerben, und sei es nur die, den Unterschied zwischen Umschlägen mit Beileidsbezeigungen und solchen mit einer Zahlungsaufforderung zu erkennen.
Ich ging mit der Post durch die Bibliothek, wo ich einen Brieföffner mitnahm, zur Veranda. Mirjam hatte die Kissen bereits auf den Sesseln verteilt. Auf dem runden Terrassentisch lag eine blitzsaubere Decke, mit Klammern befestigt. Genau, Jenny brauchte nicht zu sehen, daß wir hier jeden Abend, um ein Mäusehäppchen an fester Nahrung hinunterzuspülen, mit Rosé und Rotwein herumkleckerten.
Zehn nach vier. Ich hatte noch eine knappe Stunde für mich. Am liebsten würde ich die restliche Zeit meines Lebens für mich allein haben – für mich und für Mirjam. Meine Arbeit beenden, was immer sie wert war, und mit Mirjam über Tonio sprechen bis zu meinem letzten Atemzug – oder ihrem. Mehr wollte ich nicht.
Kinderstimmen, drei, vier Häuser weiter, verbreiteten sich über die Gärten. Frieden. Ich öffnete den ersten Umschlag. Zwei Freundinnen, Leserinnen, erinnerten an eine Lesung von mir im Schloß Rhoon, Anfang der neunziger Jahre. Sie hatten ein Foto beigelegt, auf dem Tonio, verlegen lachend, seinen Namen in ein Buch von mir kritzelt. Sein dunkles, glattes Haar (wenige Jahre zuvor noch helle Ringellocken) war zu einer Pagenfrisur geschnitten, deren Pony ihm über die Augenbrauen fiel. Den Fünfjährigen so wiederzusehen, während er als Einundzwanzigjähriger noch am Leben war, hätte das Herz schon kaum verkraftet. Jetzt hielt ich ein Foto in der Hand von einem Jungen, den es auf zweifache Weise nicht mehr gab.
Ich las Brief um Brief, besah Karte um Karte. Liebe, ohnmächtige Worte des Trostes. Mütter von Tonios Klassenkameraden an der Cornelis Vrij wärmten Erinnerungen an den Schulhof auf, wo sie so oft grüppchenweise gewartet hatten, bis ihre Sprößlinge mit Spielen fertig waren. Mancher Kollege oder Journalist, mit dem ich schon mal in Konflikt gelegen hatte, stieg über die Wirrnis des Zwists hinweg, um uns Kraft zu wünschen. Jetzt, da der Strom der Beileidsbezeigungen schon so viele Wochen anhielt, fiel mir auf, daß aus der Fernsehwelt kein einziges Wort kam. Gerade die Redakteure und Gastgeber von Talkshows und Literatursendungen stellten sich gerne als die besten Freunde dar und besangen deine Unersetzlichkeit bei gerade diesem Thema – jedenfalls so lange, wie die Mitwirkung noch nicht definitiv zugesagt war. Doch auch nach Ende der Sendung ließen sie es sich nie nehmen, einen mit dir trinken zu gehen und en passant deinen Beitrag zu loben.
Und dann stirbt der Sohn des geschätzten Gastes, und …kein Wort. Vielleicht darf ich dem Fernsehvolk keinen Vorwurf machen. Die Gäste ihrer Shows bestehen von vornherein aus sich bewegendem Licht. Am Tisch mag eine Person aus Fleisch und Blut sitzen, doch worum es geht, ist seine Anwesenheit im Wohnzimmer: die Abbildung in Licht, von der die Fernsehmacher nur hoffen können, sie werde nicht vom Haustyrannen auf dem Sofa weggezappt. Mutatis mutandis gilt das auch für den Gastgeber der Talkshow: Er verdankt seine Existenz dem Fernsehlicht. Als Interviewer des Gastes ist er keine Person aus Fleisch und Blut, folglich braucht er außerhalb der Show auch nicht wie ein richtiger Mensch mit Mitgefühl zu reagieren.
16
Es klingelte. Wir hatten von der Firma Brom noch immer keinen freundlicheren Ton installieren lassen. Die Klingel klang unverändert wie am Pfingstsonntag und wirkte weniger auf das Gehör als
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