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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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doch gut sein, daß die Antibiotika beim letztenmal nicht richtig angeschlagen haben … sag ihr, daß wir ihr die Fotos schicken …
    Tonio war dreizehn. Es war ein normaler Schultag, doch er hatte zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt geduscht: mitten am Nachmittag. Weil ich selbst ins Badezimmer wollte, wartete ich, auf dem Bett liegend, bis seine schlecht abgetrockneten Füße mit einem klebrigen Sauggeräusch den Flur zur Tür mit dem Schild GENIUS AT WORK überquerten. Im Bad war es feucht und schwül. Es roch stark nach Kiefernnadelgel, ein Zeug, das ich selbst nicht benutzte. Ich mochte es nie, kurz nach jemand anderem zu duschen, aber, na, was soll‘s, es war Tonio. Ich schob den Nylonvorhang beiseite.Ein klassisches Stilleben: auf einem kleinen Bett dunkler Haare, einem Vogelnest im Entstehen, das sich im Abfluß festgesetzt hatte, lag ein großer weißer Tropfen von Tonios frisch vergossenem Samen.
    Prima, das ist also auch in Ordnung, dachte ich zufrieden: Mensch, Junge, ich hoffe, du hast es mit fürstlicher Verlegenheit genossen.
14
     
    Bei allem, was mich an ihm ärgert, während im Wortsinn unbeobachteter Augenblicke, kann ich sofort auf eine Entsprechung aus meiner eigenen Studentenzeit verweisen. Die tollkühne Trinkerei, Radfahren ohne Licht, mangelnde Forschheit bei Mädchen, unrasiertes Äußeres, Vernachlässigung der Großeltern (außer wenn es um zusätzliches Taschengeld ging), Nicht-aus-dem-Bett-Kommen, nachts leben, Saustall im Haus, ewiger Geldmangel, ewiger Mangel an Studienstunden und Studienpunkten …
    Ich kann auf nichts hindeuten und sagen: Das habe ich mit einundzwanzig besser gemacht. Vielleicht schlief ich etwas häufiger mit Mädchen, aber das war nur zum Teil das Verdienst meiner Eroberungstaktiken, die stark unter meiner angeborenen Schüchternheit litten. Es waren andere Zeiten. Von wegen sexuelle Revolution – schlicht und einfach die Pille. Man fragte ein Mädchen nicht, ob sie die Pille nahm: Sie warnte einen, wenn das, in seltenen Ausnahmen, nicht der Fall war. Filzläuse und Tripper bildeten in den siebziger Jahren eine fünfte Kolonne des Studentenlebens, aber Aids hatte noch nicht seinen Eroberungsfeldzug begonnen – das Vergnügen wurde selten durch den Talkumgeruch eines abgerollten Kondoms beeinträchtigt.
    Anno 2010 ist Aids noch immer nicht restlos ausgerottet, und für die übrigen venerischen Krankheiten hat man sich einen Sammelnamen ausgedacht, so viel Übertragbaresbedroht heutzutage das Liebesleben der jungen Leute. Es muß wieder verhandelt werden oder zumindest beratschlagt, und nie zuvor seit Herr Condom in durch Hitze verklebten Schafsdärmen Profit sah, wurde so viel mit Präsern gefummelt wie heutzutage.
     
    Dies wird keine unautorisierte Biographie Tonios, sondern etwas Ähnliches wie ein unautorisiertes Requiem. Trage ich der Tatsache hinreichend Rechnung, daß Tonios Sicht mancher Ereignisse eine andere war, als meine es jetzt ist? Wäre es ihm lieber gewesen, ich hätte einige Dinge verschwiegen?
    Er war zwei, oder kurz davor. Wir saßen zu dritt im Zug, vielleicht auf dem Weg zu meinen Eltern in Eindhoven. Tonio hatte ein Malbuch und Buntstifte dabei, doch er kritzelte nicht länger die Blätter voll, also amüsierte ich ihn mit der Anfertigung einfacher Zeichnungen. Intensiv an seinem Schnuller saugend, sah er mir mit schläfrigen Augen zu. Nach einer Katze in verschiedenen Positionen zeichnete ich ein Porträt von Tonio mit seinen langen Locken, dem Schnuller wie ein Clownsmund und dem Knuddeltuch, das er ans Ohr drückte. Ich zeigte es ihm. Sein Gesicht erhellte sich. Er lachte.
    Gut, nächstes Porträt. Die großen Augen, die üppigen Locken. Ich faltete das Papier der Länge nach und riß dort, wo sich der Mund befand, einen kleinen Kreis heraus. Nachdem ich das Blatt wieder glattgestrichen hatte, nahm ich Tonio den Schnuller aus dem Mund und steckte ihn in die papierne Öffnung. Ich zeigte ihm das Porträt. Fast das gleiche wie eben, über das er so gelacht hatte, nur diesmal mit einem echten Schnuller. Aus Näher zu Dir zitierend, rief ich: »Ist das nach der Natur, oder ist das nicht nach der Natur?«
    Tonio blickte ein paar Sekunden lang ernst auf sein Bildnis und begann dann hemmungslos zu weinen. Ich zog den Schnuller schnell aus dem Bild und gab ihn Tonio zurück. Er wollte ihn nicht mehr. Ich versuchte, ihm das Ding zwischen die Lippen zu stecken, doch er ließ es jedesmal absichtlichwieder aus dem Mund fallen. Für den Rest der

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