Tonio
Augen zu betrachten, weil es auf seiner Netzhaut für immer und ewig schwarz bleiben würde, wie das im Fernsehjargon hieß. Doch meine Bemühungen, die Schönheit des Beobachteten mit ihm zu teilen, waren immer öfter kontraproduktiv. Bei jedem Ding, jedem Phänomen, das, wie ich zu wissen glaubte, seinem Blick wohlgefällig gewesen wäre, ging ein entsprechender Teil meines Genusses verloren. Anstatt daß ich »für zwei genoß«, verringerte die Augenweide, die Tonio für immer versagt war, mein eigenes ästhetisches Erleben.
Anders gesagt: Ich konnte so lange meine Freude an etwas Schönem haben, bis die Erkenntnis voll zu mir durchdrang, daß Tonio sich in gleichem Maße daran erfreut hätte . Die Gewinn- und Verlustrechnung meiner visuellen Freuden ergab also exakt Null. Mit Jennys Schönheit erging es mir an diesem Nachmittag nicht anders.
Zum Glück, da war Mirjam mit dem Tablett.
»Hab ich viel verpaßt?« fragte sie, während sie die Gläser auf Korkuntersetzer stellte. »Der hier ist mit wenig Gin.«
In die Mitte des Tisches kam eine Platte mit kleinen Toasts: Lachs, Sardinen, Fleischsalat.
»Wir sind noch nicht weiter gekommen«, sagte ich, »als bis zu Jennys Fahrt auf dem Rad hierher. Sie hatte Angst, sie würde nicht wissen, was sie sagen sollte.«
Wir erhoben die Gläser. »Auf den großen Abwesenden«, sagte Mirjam. Wir nahmen alle einen Schluck.
»Komisch«, sagte Jenny, »vorhin wieder vor eurer Tür zu stehen. Und dazu noch an genau so einem schönen Tag wie damals im Mai. Alles schien für einen Moment gleich zu sein … und doch war alles anders, weil … na ja, ich wußte natürlich, daß er … daß Tonio nicht aufmachen würde. Er kam an die Tür in einem tollen Shirt … etwas Rotgestreiftes … und dann dieses breite Lächeln von ihm.«
Sie schüttelte den Kopf und führte schnell wieder ihr Glas an den Mund. Ich mußte an mein blind date mit Marike A. denken, das ihre Schwester im Frühjahr ‘69 arrangiert hatte. Wie ich vor dem Spiegel das richtige Lächeln geübt hatte,gefolgt von einem geeigneten Eröffnungssatz: »Wer hätte gedacht, daß es so was Charmantes sein würde …« (»So was«, ging das überhaupt? Oder klang das zu sehr nach einem Gegenstand? Und dann »charmant« … wollte ein fünfzehnjähriges Mädchen heutzutage noch als charmant bezeichnet werden? Nach endlosem Korrigieren kam ich nicht weiter als »so ein charmantes Etwas« – und so habe ich es, glaube ich, sogar gesagt. Das einstudierte Lächeln war da schon längst zu einem Grinsen geworden.)
»Sein Lieblingshemd«, sagte Mirjam. »Er hatte mich fast gezwungen, es zu waschen und zu bügeln. Nicht gerade ein Arbeitshemd. Er wird einen guten Grund gehabt haben, es anzuziehen. Jetzt ist er darin …«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf, ohne den Satz zu beenden, als schmälere die Mitteilung, Tonio liege in diesem Hemd im Sarg, das Kompliment, das er Jenny gemacht hatte, indem er es für die Fotosession anzog.
Jetzt war der Moment gekommen, Jenny nach Tonio zu fragen – woher sie sich kannten, wie das Fotoshooting verlaufen und warum aus ihrer Verabredung im Paradiso nichts geworden war. Vor Wochen, als wir mit so etwas Ähnlichem wie der Rekonstruktion von Tonios letzten Tagen begonnen hatten, hatte ich mir gesagt, ich dürfe kein einziges Detail ignorieren. Sonst habe alles keinen Sinn. Ich wunderte mich die ganze Zeit, wie kaltblütig ich trotz aller Verzweiflung den Fakten ins Auge zu blicken wagte. Merkwürdig: Jetzt, da ich endlich das fehlende Glied vor mir hatte, das ablehnende Mädchen Jenny, gelang es meiner alten Angst vor der Wahrheit, sich wieder einmal tüchtig aufzuspielen. Der Mann, der Postsendungen ungeöffnet ließ, weil sie schlechte Nachrichten (oder eine sonstwie unliebsame Mitteilung) enthalten könnten, war wieder voll da, gerade jetzt, da ich ihn am wenigsten gebrauchen konnte.
Das Problem, das ich gleich nach Tonios Tod erkannt hatte: Es waren, aus Jennys Mund, zwei Wahrheiten möglich,und ich wollte keine von beiden wissen. Erste Wahrheit: Jenny hatte Tonio als Fotografen für ihre Mappe gewählt, so daß in ihren Augen die ganze Session lediglich eine geschäftliche Transaktion war, die allenfalls einen freundschaftlichen Touch hatte. Zweite Wahrheit: Eine unausgesprochene gegenseitige Anziehungskraft hatte auf dem Wege über Bitte oder Angebot die Form eines ausgedehnten Fotoshootings angenommen, aus dem der Beginn einer Romanze entstanden war oder dabei war zu
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