Tonio
Kopf in Richtung der kleinen Laube, diesmal etwas weniger verstohlen. »Wir hatten sogar noch Zeit, auf der Bank in der Sonne zu sitzen. Tonio hatteEistee aus dem Kühlschrank geholt. Herrlich kalt aus dem Gefrierfach. Er sagte, er hoffe, das Wetter bliebe so schön … den ganzen Sommer lang … Das hat er immer wieder gesagt. Es war schön, da so zu sitzen, Gesicht in der Sonne, Augen zu. Und Tonio, der immer wieder sagte: ›Ich hoffe wirklich, daß es so bleibt.‹«
Ich mußte an den kalten Frühlingsabend ‘69 denken, als ich nach der Fete in Eindhoven Marike A., die ich erst ein paar Stunden kannte, zu dem vereinbarten Ort brachte, an dem ihr Vater uns mit dem Auto abholen wollte. Er war noch nicht da. Fröstelnd gingen wir auf dem Bürgersteig auf und ab, und ich wiederholte in einer Tour, weil ich dachte, das gehöre sich so, und wohl auch ein bißchen im Ernst: »Laß uns einen schönen Sommer draus machen.«
Das Mädchen sah mit blassem, ängstlichem Gesicht zu mir auf. Sie hatte große hellgraue Augen, ganz ungewöhnlich, aber voller Furcht. Nicht sehr lebenstauglich.
»Abgemacht?«
Erst da nickte sie. Exakt zehn Jahre später machte sie ihrem Leben ein Ende, aber das war wieder eine ganz andere Geschichte. Meine erste Requiemerfahrung.
»Tonio kannte dich offenbar noch nicht gut genug, um zu wissen, was du gern trinkst«, sagte Mirjam. »Der Kühlschrank war vollgestopft mit Eisteekartons und Obstsäften. Und Flaschen mit Erfrischungsgetränken. Sachen, die wir sonst nie im Haus haben. Das hat für Wochen gereicht.«
Jenny lachte. »Nur Eistee, das wäre okay gewesen.«
18
Als Junge guckte ich, wenn ich am Eßtisch meine Hausaufgaben machte, die Fernsehserie The long hot summer . Meine Eltern saßen mit dem Rücken zu mir, nicht ahnend, daß ich die verbotenen Verwicklungen genauestens verfolgte. Dabei geriet ich schon beim Titel ins Träumen. Einen Long hot summer ,den wünschte ich mir auch für die Zeit nach den Klassenarbeiten. Mit Marike A., mit der ich mich noch immer traf.
Ich erkannte meinen Tagtraum in Tonios Worten wieder, die nun aus Jennys Mund kamen: wie er immer wieder, obwohl es erst Mai war, die Hoffnung auf einen richtig sommerlichen Sommer geäußert hatte. Ich hörte es ihn sagen.
Ich wußte jetzt, welche Form ein Long hot summer annehmen konnte: Tage mit tropischen Temperaturen, die halfen, Trauer und Kummer auszuschwitzen. Ein Long hot summer , das war vor allem ein ungerührter Sommer, der Tonio ausschloß und sich weigerte, ein Spiegel unserer Traurigkeit zu sein.
»Ich habe nur zwei Polaroids gesehen«, sagte ich, »aber die Fotos hier im Garten fand Tonio am gelungensten.«
»Für mich war es schwierig, das auf so einem winzigen Display zu beurteilen«, sagte Jenny. Sie verdrehte den Oberkörper, um etwas mehr vom Garten sehen zu können. Hier hatte Tonio sie einen Nachmittag lang verewigt. Sein konzentrierter Blick mußte für sie noch überall spürbar sein.
»Möchtest du sie sehen?« fragte Mirjam Jenny. »Es sind sehr viele. Meiner Meinung nach von sehr unterschiedlicher Qualität. Ich habe sicherheitshalber alle abziehen lassen. Du mußt dann für dich selbst eine Auswahl treffen.«
Das Mädchen wurde jetzt sehr nervös. »Lieber nachher«, sagte sie.
Ich verstand sie. Obwohl außerhalb des Bildes, sah Tonio sie aus jedem Foto direkt an.
»Nachher ist auch okay«, sagte Mirjam, die zweifellos an all die Mühe dachte, die es sie gekostet hatte, die Fotos aufzutreiben.
Das Gespräch verstummte. Jenny schaute jetzt fast ununterbrochen zu der kleinen Laube mit der weißen Bank. In der Hand hielt sie das leere Longdrinkglas, das sie von Zeit zu Zeit an die Lippen führte, doch mehr als einen sauren Tropfen aus dem Limonenspalt ergab das nicht.
»Jenny, noch einen Gin Tonic?« fragte Mirjam.
»Ich glaube felsenfest daran«, sagte das Mädchen unvermittelt, »daß die Toten nicht einfach weg sind. Sie lassen eine bestimmte Energie für uns zurück.«
19
Es war ein warmer Tag gewesen, aber es folgte kein schwüler Sommerabend. Mit der Dämmerung wurde es rasch frisch. Ohne daß man von einer Brise sprechen konnte, zog Kühle in Schwallen aus den Gärten herauf. Wir saßen eine ganze Weile da, ohne nach Jennys Worten über die zurückgelassene Energie der Toten noch viel zu sagen. Tonio war in unserer Mitte, ja, und jeder von uns trauerte um ihn, aber warum in Gottes Namen zerbrachen wir nicht? Warum ließen wir uns nicht schreiend vom Sessel auf den
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