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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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vielmehr direkt auf die Nerven.
    Das mußte Jenny sein. Fünf Uhr, schon? Ich hatte keine Uhr oder Armbanduhr zur Hand, doch meinem Gefühl nach war, seit ich begonnen hatte, die Post durchzusehen, noch keine halbe Stunde vergangen. Ich horchte, ob Mirjam öffnete: Sie konnte schon gut zwanzig Minuten aus dem Beth Shalom zurück sein.
    Der Klingelton gellte im kahlen Marmorgang nach. Wenn Mirjam zur Haustür ging, klapperte sie mit der gläsernen Zwischentür, damit die Katzen nicht entwischten, doch auch dieses Geräusch blieb aus.
    Es klingelte zum zweitenmal. Wenn Mirjam um fünf Uhr noch nicht vom Beth Shalom zurück war, obwohl sie Besuch erwartete, mußte unterwegs etwas passiert sein. Während ich durch die Bibliothek zum Flur ging, versuchte ich, die Vision von Mirjam und ihrem Vater zu unterdrücken, die mit abgeknickten Köpfen aneinandergelehnt in den Sicherheitsgurtenhingen. Die Katzen standen mit bösen Gesichtern, sämtliche Haare kritisch gesträubt, in der Treppenbiegung.
    Vor der Tür das Mädchen, das ich von Tonios Polaroids wiedererkannte.
    »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich bin viel zu früh. Dumm von mir.« Sie streckte die Hand aus. »Jenny.«
    Während ich ihre Hand (klein, schmal) drückte, sah ich hinter ihr, auf dem Parkstreifen, Mirjam aus dem Auto steigen. »Hab ich mich in der Zeit geirrt?« rief sie, fast in Panik. »Es ist Viertel vor fünf. Ich dachte, wir hatten fünf Uhr gesagt. Oh, mein Kopf … ein Trümmerhaufen.«
    Während ich zur Terrasse voranging, überboten sich die beiden Frauen hinter mir an gegenseitigen Entschuldigungen über ihre Schludrigkeit. Ich bot Jenny einen Sessel an, doch sie blieb stehen und blickte, die Hände auf das Verandageländer gelegt, in den Garten: Zum erstenmal sah sie den Ort wieder, an dem Tonio sie an jenem zwanzigsten Mai fotografiert hatte. Auch nachdem sie am runden Tisch saß, blickte sie regelmäßig, fast scheu, von der Seite her auf die kleine Laube mit der weißen Bank.
    Mirjam fragte, was wir trinken wollten. Jenny bat um Mineralwasser, doch als sie hörte, daß ich einen Gin Tonic nahm, wollte sie auch einen, »mit nicht zu viel Gin«. Mirjam ging, um die Getränke zu holen.
    Wir saßen uns etwas unbehaglich gegenüber. Ein echtes Tonio-Mädchen . Genau diese Worte bildeten sich in meinem Kopf, obwohl ich noch nie jemanden als »echtes Tonio-Mädchen« bezeichnet hatte, geschweige denn, daß ich gewußt hätte, welchen Anforderungen ein Tonio-Mädchen zu genügen hatte.
    »War es dir unangenehm, hierher zu kommen?«
    »Ja, ziemlich. Aber auch wieder nicht. Unterwegs dachte ich immer: O je, gleich weiß ich nicht, was ich sagen soll. Und dann?«
    War es meine Verzweiflung, die unbedingt wollte, daß diese Jenny zu Tonio paßte … gepaßt hätte? Auch die Verbformen spielten ihr Spiel von Leben und Tod. Mir gegenüber saß ein zartes Mädchen mit einem feinen Gesicht, dessen Ausdruck unter dem Einfluß einer peinlichen Nervosität ständig wechselte, die auch ihre Arme und Schultern ergriffen hatte. Sie warf schnell wieder einen kurzen Blick zur Seite auf die Zweierbank vor der rötlich verputzten Mauer. Es war sicherlich der Typ Mädchen, den ich selbst mit zwanzig hätte beschützen, umarmen, streicheln wollen. Sie trug dünne Kleider, die die Körperwärme voll durchließen: wunderbar für Tonio beim Tanzen. Oder war das Tonio-Mädchen meine eigene Schöpfung?
    Na komm, ich hatte doch gesehen , daß sie es auch für Tonio war. Wie er mir mit verlegenem Stolz die Polaroids gezeigt hatte … Seine relativierende Bemerkung: daß ich nicht nur anhand dieser Probefotos urteilen dürfe. Er würde mir bald bessere Abzüge zeigen.
    Mirjam blieb lange weg. Ich hörte sie in der Küche im ersten Stock hantieren, deren Fenster offenstanden. Sicher bereitete sie auch etwas zum Essen vor. Ich sollte jetzt etwas sagen, egal was, sonst starb das Mädchen vor Nervosität.
    »Ich habe natürlich jede Menge Fragen an dich«, sagte ich, »aber ich schlage vor, wir warten auf Mirjam. Sie will auch alles wissen.«
    »Gut.«
    Ja, sie war hübsch, aber sie besaß nicht die raffinierte Schönheit eines Models – wie ich Tonio gegenüber, zu seinem leichten Ärger, hatte durchblicken lassen. Schließlich ging es nur um den Versuch einer Studentin, sich über eine Modelagentur etwas dazuzuverdienen.
    »Was studierst du?«
    »Kunstgeschichte. Zweites Jahr.«
    So ging es schon seit Wochen: Jedesmal, wenn ich etwas Schönes sah, versuchte ich, es mit Tonios

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