Tonio
entstehen.
Wahrheit Nummer 1 bedeutete, daß Tonio Abschied vom Leben hatte nehmen müssen ohne eine letzte Romanze, was seinem Tod eine unwirtliche Kahlheit gab.
Wahrheit Nummer 2 würde uns für immer mit dem Nebengedanken quälen, »was hätte sein können, aber nicht sein durfte«.
Keine der beiden Wahrheiten verdiente Vorrang vor der anderen. Die Unmöglichkeit zu wählen machte alles noch schlimmer. Ich wollte es nicht hören.
»Dürfen wir erfahren, Jenny«, fragte ich, »wie du und Tonio euch kennengelernt habt?«
»Das ist kein Geheimnis«, sagte sie mit einem kurzen Lächeln.
17
Jennys Mutter hatte im Sommer 2009 eines Tages den Computerladen Dixons in der Kinkerstraat betreten, um sich über neue Fotoapparate zu informieren. Es bediente sie ein zuvorkommender junger Mann, der mühelos auf Englisch umschaltete, als er erfuhr, daß er eine Kanadierin vor sich hatte.
»Meine Mutter und ich«, erzählte Jenny, »teilen uns eine Wohnung in Amsterdam-West. An dem Nachmittag damals kam sie ziemlich aufgedreht nach Hause. ›Ich hab bei Dixons so einen netten Jungen getroffen‹, sagte sie. ›So freundlich und hilfsbereit. Und auch noch gutaussehend. Er hat mir alles sehr geduldig erklärt … Kameras vorgeführt … und alles, ohne mir etwas aufzudrängen.‹ Ihr müßt wissen, daß meine Mutter schnell von jungen Männern angetan ist. Ich weiß nicht, ob sie damals etwas gekauft hat, aber sie ging danach regelmäßig zu Dixons. Meist traf sie auf den Geschäftsführer, der heißt Kantorovitsj … ich kann auch nichts dafür …«
»Kantorovitsj«, sagte Mirjam, »ja, das war Tonios böser Genius bei Dixons. Daß er Tonio öfter mal telefonisch aus dem Bett scheuchte, wenn der wieder mal verschlafen hatte, ging ja noch. Aber er hat Tonio im Geschäft bis zum Gehtnichtmehr als Langschläfer oder Ausschläfer bezeichnet. Das hat dem armen Jungen dermaßen gestunken.«
»Meine Mutter fragte Kantorovitsj jedesmal, ob Tonio sie bedienen könne. Und dann hatte sie wieder hundert Fragen an Tonio, der alles geduldig erklärte. ›Du mußt mal mitkommen zu Dixons‹, sagte sie einmal. ›Dann kannst du ihn dir anschauen. Das ist wirklich ein sehr netter Junge.‹ Ich denke, da steckte wohl auch ein bißchen matchmaking dahinter. Na schön, eines Tages: ich mit zu Dixons. Und tatsächlich … Tonio. Wir haben ein bißchen geredet und so. Ich über mein Studium. Er über seine große Leidenschaft, das Fotografieren. Ich bin noch ein paarmal im Geschäft gewesen. Auch ohne meine Mutter. Wir fanden uns, glaube ich, nett oder so. Aber es ist nie zu einem date gekommen.«
Nur wenn man wußte, daß ihre Mutter eine englischsprachige Kanadierin war, hörte man einen leichten englischen Akzent in Jennys Niederländisch heraus. Ich hätte Tonio am liebsten zugerufen: Los, lad sie ein, worauf wartest du … sag, daß Kantorovitsj dich braucht, daß du aber gern nach Geschäftsschluß weiterreden würdest …
»Warum nicht, was denkst du?« fragte ich.
»Eines Tages war er verschwunden«, sagte Jenny. »Einfach plötzlich nicht mehr bei Dixons. Das war letzten Herbst. Kantorovitsj sagte, Tonio habe gekündigt, weil er den Job nicht mehr mit seinem neuen Studium unter einen Hut bringen konnte. Ich wußte natürlich, daß er am ersten September mit Medien & Kultur angefangen hatte, aber … na ja, er arbeitete wie gewohnt bei Dixons weiter. Bis weit in den Herbst hinein. Und dann … er hatte mir nichts gesagt. Meine Mutter wußte auch von nichts. Ich hatte seine Nummer nicht, keine E-Mailadresse, ich wußte nicht mal, wo er wohnte. Bei Dixons konnten sie mir auch nicht weiterhelfen. So haben wir uns aus den Augen verloren.«
Verflixter Tonio. Sprang genauso leichtfertig mit seinen Chancen um wie sein Vater im selben Alter. (Die sonnenüberflutete St. Annastraat in Nimwegen. Die Blondine, die mich auf dem Fahrrad festhielt: »Tee? Kannst dann auch gleich mein neues Zimmer sehen.« Und ich Hornochse wußte nichts anderes zu sagen als: »Ich wollte gerade zu der Jobvermittlung dort drüben. Ich bin pleite.«)
Jenny trank von ihrem Gin Tonic. Sie nahm einen zu großen Schluck, der ihr offenbar schmerzhaft in der Speiseröhre steckenblieb und Tränen in die Augen trieb. Sie klopfte sich auf die Brust.
»Aber nicht für immer«, sagte Mirjam. »Ja, jetzt schon … für immer, meine ich … aber damals noch nicht.«
»In diesem Frühjahr«, sagte Jenny, wiederholt schluckend, »stieß ich bei Facebook auf Tonio. Ich war
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