Tonio
im zweiten Jahr, hatte Schulden und mußte dringend nebenher Geld verdienen. Ja, das klingt natürlich furchtbar eitel, aber ich spielte mit dem Gedanken, als Model zu arbeiten, als Statistin, oder so was. Was ich brauchte, war eine Mappe mit guten Fotos, mit denen ich die Castingbüros abklappern konnte. Als ich sah, daß Tonio eine Seite bei Facebook hatte, dachte ich gleich an seine begeisterten Geschichten übers Fotografieren. Ich nahm Kontakt auf. Er natürlich überrascht. Ein Fotoshooting, ja, darüber ließe sich reden. Ich bot an, ihm alle Unkosten zu erstatten und ihn für seine Arbeit zu bezahlen. Diese Entrüstung! Wenn ich von ihm fotografiert werden wolle, ja, dann bräuchte ich nur so anzufangen … Eine Bezahlung, daskomme gar nicht in Frage. Also – ja oder nein? Ja, gern natürlich. Den Rest kennt ihr. Wir hatten uns für den Donnerstag vor Pfingsten verabredet. Er wollte euch fragen, ob er das Fotoshooting hier im Haus machen dürfe. Ein Problem sah er dabei nicht. ›Es würde mich nicht wundern‹, sagte er, ›wenn sie für einen Tag außer Haus gehen. So sind sie schon.‹ Und so war es.«
Wenn ich ihre Version der Wahrheit nicht abwenden konnte, mußte ich Jenny jetzt fragen, ob sie die Fotomappe nicht hauptsächlich vorgeschoben hatte, um wieder in Kontakt mit Tonio zu kommen. Ich öffnete den Mund, aber Mirjam kam mir zuvor: »Erzähl mal, Jenny, wie war dieser Nachmittag?«
»Ich glaube«, sagte Jenny, »wir waren so ungefähr in allen Räumen im ganzen Haus. Im Wohnzimmer, in seinem ehemaligen Zimmer, in der Bibliothek hier … im Garten natürlich … Tonio hat mich sogar auf dem Dach fotografiert. Die Fotos gefielen ihm am wenigsten, und mir auch. Sah so kahl aus da oben. Mit der Aussicht konnte er nichts anfangen.«
»Moment mal«, sagte ich. »Wenn ihr auf dem Dach wart … das geht nur über die Feuerleiter im dritten Stock. Dafür muß man durch mein Arbeitszimmer.«
»Jetzt hab ich mich verplappert«, sagte Jenny. »Ja, ich weiß, dort durfte er nicht fotografieren, wegen der ganzen Papiere und so. Tonio hat sich strikt daran gehalten. Wir sind nur kurz durchgegangen auf dem Weg zum Balkon. Nein, das stimmt nicht ganz. Ich hab mich doch heimlich ein bißchen umgesehen. Auf dem langen Tisch lagen verschiedene Karten ausgebreitet … Stadtpläne von Amsterdam, Amstelveen, Valkenburg … Tonio sagte, die sind für einen Roman, den du gerade schreibst. Über den Mord an einer Amsterdamer, oder nein, einer Amstelveener Polizistin. Irgend so was. Was Valkenburg damit zu tun hatte, wußte er auch nicht.«
»Jetzt verstehe ich, warum die Markise oben war«, sagte ich zu Mirjam. »Wenn sie runtergelassen ist, kommt man nicht auf die Leiter.«
»Und darüber zerbrichst du dir wochenlang den Kopf«, sagte Mirjam.
»Wenn wir schon mal dabei sind, alle Rätsel aufzuklären«, wandte ich mich wieder an Jenny. »Der Vater der Hauptfigur war in den sechziger Jahren Staubsaugervertreter. Manchmal durfte sein Sohn mit. So kamen sie gemeinsam nach Valkenburg. Mit dem neuesten Modell die Reihenhäuser abgeklappert. Der Sohn spürt ganz genau, mit welchen Hausfrauen sein Vater ein besonderes Einvernehmen entwickelt hat. Über die Tasse Kaffee hinaus, sagen wir mal. Da siehst du‘s. Am Donnerstag erklärt dir Tonio kurz, wovon mein neuer Roman handelt, und drei Tage später wird das Buch durch sein Zutun vernichtet, und er zwingt mich, ein ganz anderes zu schreiben. Der Tyrann. Allerdings ein sanftmütiger.«
»Tonio hatte es plötzlich eilig«, sagte Jenny. »Diese Serie auf dem Dach, schade um die Zeit. Er wollte mich unbedingt noch im Garten fotografieren, bevor die Sonne ganz weg war. Ich hatte die ganze Zeit weiße Sachen angehabt. Jetzt wollte ich noch eine Serie in Schwarz. In seinem alten Zimmer hab ich mich schnell umgezogen. Schon was Besonderes, dieser Ort, an dem er seine ganze Kindheit verbracht hat … war doch irgendwie ein besonderes Gefühl …«
Wenn sie weiterhin so locker von diesem Fotonachmittag berichtete, würden wir weder mit der einen harten Wahrheit konfrontiert werden noch mit der anderen. Dann blieb die Wahrheit schön irgendwo in der Mitte. Nun, war das nicht eigentlich genau das, was ich wollte? Nein. Jetzt oder nie.
»Von seinem vierten bis zum zwanzigsten Lebensjahr«, sagte Mirjam. »Als er aus dem Haus ging, war er gerade noch neunzehn.«
»Und«, fragte ich, »warst du schnell genug in Schwarz, um das Licht noch auszunutzen?«
Wieder wandte Jenny den
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