Tonio
mit verheultem Gesicht, sie habe die Fotos wieder weggetan und durch weniger aktuelle ersetzt. Auf dem Flur fand ich später eine Papiertüte mit den gerahmten Fotos. Ich zog eines heraus (Tonio und Iris) – und bekam einen Schlag in den Magen, der fast ausgewrungen wurde. Seit seinem Besuch am Donnerstag, dem zwanzigsten Mai, war Tonio nicht mehr so greifbar nahe gewesen. Ich steckte den Rahmen rasch zurück in die Tüte – die immer noch da steht, in derselben Ecke.
Mit Tonios vollständig wiederhergestelltem Jungenzimmer um sich gelingt es Mirjam offenbar, weiterzuatmen. Siesitzt dort ganze Tage an ihrem Computer, Tonios Laptop (im Grunde eine digitale Schiefertafel, auf der man mit dem Stift schreiben kann) in Reichweite. Wenn ich mit ihr sprechen möchte, habe ich die Neigung, auf dem Flur stehenzubleiben und die Unterhaltung durch die halboffene Tür zu führen.
2
Mirjam steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, um sich in Tonios Zimmer an die Arbeit zu machen. Gegen neun, wenn ich im Nebenraum im Bett die Zeitung lese, bereitet sie das Frühstück zu. Wir essen und reden, aufrecht nebeneinander an die Kissen gelehnt. Radio 4 läuft.
Heute morgen betrat sie ohne Tablett das Schlafzimmer. Ich bekam einen Klaps auf die Beine zum Zeichen, ich solle beiseite rücken, damit sie sich auf die Bettkante setzen könne. Sie weinte nicht, aber ihre Miene war starr.
»Schon was tun können?« fragte ich.
»Ich hatte auf einmal so eine Angst, dich auch noch zu verlieren«, sagte sie böse. »Und daß ich dann ganz allein wäre in meinem Kummer um Tonio.«
Da waren die Tränen. Wenn ich keinen anderen Ausweg sah, nahm ich Zuflucht zur Literatur.
»Das Ende von Der Prozeß … erinnerst du dich noch, Minchen? Wo Josef K. denkt, die Scham wird seinen Tod überleben? Mein Kummer um Tonio wird mich lange überleben. Ich weiß nicht, wie lange du glaubst, mich zu überleben, aber du wirst den Kummer immer mit mir teilen können … bis zu deinem letzten Atemzug … dafür ist er stark genug. Auch nach meinem Tod.«
»Ich wollte damit nicht sagen, daß ich denke, du stirbst bald.«
»Daß ich doch noch eine zweite Brut in Angriff nehme, wolltest du das sagen?«
»Nur so, die bloße Tatsache, daß ich allein übrigbleibe und dann die einzige bin, die …«
»Minchen, an meinem großen Zeh hängt kein Schild von der Leichenhalle, aber auch kein Garantieschein für ein langes Leben. An deinem großen Zeh hängt auch nichts. Laß uns weiter versuchen, jeden Tag, der kommt, lebend zu überstehen. Gemeinsam. Laß uns einander soweit wie möglich vor Krankheiten schützen. Wenn das zu hoch gegriffen ist, laß uns dann auf jeden Fall versuchen, uns gegenseitig nicht krank zu machen . Und auch nicht verrückt.«
3
Als Rimbaud in seinem Elternhaus Une saison en enfer schrieb, nach der Hölle von Paris, lauschte seine Schwester an der Zimmertür, hinter der sie schmerzliches Schluchzen vernahm. Als Siebzehnjähriger mit Träumen vom Schreiben faszinierte mich das in hohem Maße: daß das Nachempfinden eigener Erfahrungen in Form von Poesie derart heftige Auswirkungen auf das Gemüt haben konnte. Fortan würde ich jedem Text von meiner Hand mißtrauen, dessen Schrift nicht fast unleserlich war vor Schmerz und seelischer Not.
Seit ich an diesem Requiem arbeite, beschwert sich Mirjam, deren Computer direkt unterhalb meines Schreibtisches steht, wegen des unvermittelten Lärms über ihrem Kopf. Nach ihren Worten stoße ich regelmäßig unter lautem Fluchen meinen Stuhl zurück, worauf heftig herumgestampft wird, manchmal unter unverständlichem Geschrei.
In meinem achtundfünfzigsten Lebensjahr werde ich mich besser nicht auf dichterische Qualen berufen, doch obgleich ich mir meiner gotteslästerlichen Arbeitsunterbrechungen nicht immer bewußt bin, weiß ich, sie hat recht. Als Tonio seine Hausaufgaben auf dem Platz machte, den Mirjam jetzt eingenommen hat, klagte er nie über von der Decke auf seine Tastatur rieselnden Kalkstaub. Bis auf das eine Mal, als ermir abends beim Essen stolz und lachend berichtete: »Heute nachmittag hab ich dich auf einmal wahnsinnig fluchen und mit Dingen schmeißen gehört.«
Ich gäbe etwas darum, wenn ich wüßte, was an jenem Nachmittag, meine kleine Familie noch ganz intakt, in mich gefahren war. Vielleicht stellte ich mir in einem unerträglich hellsichtigen Augenblick vor, wie verletzbar wir drei waren und daß unser Glück jäh zerbrechen könnte. Das hätte zu dem ohnmächtigen
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