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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Schlafen nichts davon.«
     
Sophisterei! Schwarz ist Livrei der Hölle,
Des Kerkers Farbe, Schule finstrer Nacht.
     
    Generationen von Gelehrten haben sich den Kopf über diese Zeilen aus Shakespeares Liebes Leid und Lust zerbrochen. Was mochte diese Schule finstrer Nacht sein? Ich bin kein Shakespeareforscher, doch aufgrund all der Nächte, die seit dem Schwarzen Pfingstsonntag vergangen sind, meine ich etwas davon zu begreifen. Was ich in den vergangenen Monaten in meiner nächtlichen Schule gelernt habe – ich wünschte, ich könnte in diesem Requiem auch nur einen Bruchteil davon wiedergeben.
31
     
    Gestern hörte Hinde die Mailbox ihrer neuen Handynummer ab. Es gab eine Nachricht des Sint Vitus. Eine Mitarbeiterin teilte mit: »Ähm … also, es ist so … Ihre Mutter hat heute nachmittag versucht … versucht, vor ein Auto zu springen, und sich so … Passanten haben sie festhalten können. Siehaben sie zur Polizei gebracht, und ein paar Beamte haben sie dann bei uns abgeliefert. Wir erwägen, sie angesichts ihres Zustands wieder in die Valeriusklinik zu bringen. Können Sie zurückrufen, damit wir das besprechen können?«
    Hinde war nicht nur entsetzt, sondern natürlich auch wütend: daß sie eine solch gräßliche Nachricht einfach in die Mailbox knallen, anstatt erst mal um Rückruf zu bitten, notfalls mit dem Zusatz »es ist dringend«.
    Gestern abend kam Mirjam mit dem Handy am Ohr herein, während sie eine Nachricht abhörte. »Das war Hinde … ich soll zurückrufen. Also, sie klang ganz schön niedergeschlagen. Ich hoffe nicht, daß es etwas Schlimmes mit meiner Mutter ist.«
    Mirjam rief ihre Schwester an. Ich achtete ganz genau auf ihre Miene, die bis zum äußersten angespannt war. »O nein«, rief sie, nachdem sie kurz zugehört hatte. Ich konnte Hindes unverstärkte Stimme zwar hören, aber nicht verstehen. Ich wußte, es ging um etwas Ernstes.
    Am Abend zuvor war Mirjam kurz bei ihrem Vater in der Wohnung gewesen, nachdem sie ihn aus dem Beth Shalom abgeholt hatte. Er beklagte sich darüber, daß seine Ex-Frau ihn schon ein paarmal angerufen habe, was sie in den siebzehn Jahren seit der Scheidung nie getan hatte, allenfalls anonym. Sie bedrängte ihn (»ein Notfall«), ihr die neue Handynummer ihrer älteren Tochter zu geben, die sich gerade eine neue besorgt hatte, genau wie Mirjam und ich. Natan durchschaute ihre Ausrede nicht sofort und gab ihr erschrocken die Nummer.
    Während Mirjam bei ihrem Vater im Wohnzimmer war, klingelte das Telefon wieder. »Laß mich mal«, sagte sie. Es war tatsächlich ihre Mutter, die höchst erstaunt war, mit ihrer jüngeren Tochter zu sprechen.
    »Zu Papa gehst du also«, war ihre erste Reaktion, »aber du kommst nicht zu mir …«
    »Woran das wohl liegt«, sagte Mirjam.
    »Und du rufst mich auch nicht an?«
    »Nein.«
    »Dann will ich lieber sterben. Hörst du? Dann ist mir das lieber.«
    »Du … du wirfst mit Todeswünschen und Todesdrohungen um dich, als ob … als ob es Pfeffernüsse vom Nikolaus sind. Kapier endlich, daß du damit auch deine Glaubwürdigkeit verschleuderst, Mensch. Jedesmal, wenn du mit Adri sprichst, willst du sterben … lieber heute als morgen … und das soll er mir dann ausrichten. Mitte August, Tonio ist noch keine drei Monate tot, und du verkündest, daß du an passive Sterbehilfe denkst. Nahrungsverweigerung, was weiß ich. Denkst du vielleicht auch mal an mich ? Mein Sohn ist auf der Straße totgefahren worden, ja? Ich versuche, daran nicht selbst zugrunde zu gehen. Und du … du tobst mit deinen üblen Todeswünschen mitten durch meine Trauer. Laß mich in Ruhe. Du hast dir nie was aus mir gemacht.«
    Und schon lag der Hörer auf der Gabel des altmodischen Telefons.
     
    Gestern nachmittag war meine Schwiegermutter also aus dem Sint Vitus geflüchtet. Sie war zu der nahe gelegenen Nassaukade geeilt, wo sie sich unter ein fahrendes Auto zu werfen versuchte. Passanten hatten sie zurückgehalten. Es war nicht bekannt, ob sie sich aus deren Griff hatte befreien wollen oder folgsam zum Polizeipräsidium mitgegangen war, das sich in der Nähe befindet. Hinde konnte nicht berichten, ob ein Protokoll erstellt worden war. Polizisten hatten Wies ins Heim zurückgebracht, mehr wußte sie nicht.
    Nach dem Telefonat mit ihrer Schwester war Mirjam niedergeschlagen. Sie sagte nicht mehr viel. Ich merkte, daß ich wütend war. Tausende von Malen hatte Mirjam in den zurückliegenden Monaten den schrecklichen Zusammenprall von neuem erlebt,

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