Tonio
damit sprach sie auch in meinem Namen, wollte keine Strafverfolgung. Sie sagte aber, sie wüßte gern, ob die Polizei dem Fahrer davon abgeraten habe, Kontakt mit uns aufzunehmen, oder ob sie ihm die Initiative (Kontakt aufzunehmen oder nicht aufzunehmen) überlassen habe.
Was die Unfallursache betraf, lag die Schuld dem Staatsanwalt zufolge auf beiden Seiten. Ein Radfahrer und ein Autofahrer, die beide im selben Moment nicht aufgepaßt hatten. Tonio hätte die Vorfahrt beachten müssen. Der Autofahrer hatte möglicherweise, redend, zu seinem Beifahrer geschaut.Er kam von der Arbeit im Gaststättengewerbe, hatte aber nicht getrunken.
Ich hatte mir in den vergangenen Wochen oft gesagt, daß Tonio möglicherweise ein ungeschickter Radfahrer gewesen war: Ich hätte ihm, als er klein war, das Radfahren besser beibringen müssen. So war ich den ganzen Tag über und Tag für Tag damit beschäftigt, mein Schuldgefühl zu mästen. Daß Tonio nachlässig fuhr, widerlegte eine Erinnerung an ihn auf dem Rad vor ein oder zwei Jahren (er war gerade nach De Baarsjes gezogen). Ich saß auf der Terrasse des De Joffers in der Nähe der Kreuzung Willemsparkweg/Cornelis Schuytstraat. Auf einmal sah ich ihn auf seinem orangefarbenen Omamodell, aus dem Willemsparkweg kommend, in die Cornelis Schuyt einbiegen. Lässig zurückgelehnt, die kleinen Finger an den Handgriffen, mäanderte er in aller Gemütsruhe zwischen den im Stau stehenden, hupenden Autos hindurch – sehr anmutig eigentlich, als wäre der Stadtverkehr sein natürlichstes Element.
Schräg gegenüber dem De Joffers fuhr er, den Hintern beim Überqueren des Bordsteins leicht anhebend, auf den Bürgersteig. Ich glaubte deutlich gesehen zu haben, daß Tonio sein Rad vor dem Bistro van Dam abstellte und dann hineinging. Ich zahlte rasch und eilte über die Straße, um ihn sozusagen zu ertappen. Im Bistro: kein Tonio. Im Fahrradständer: kein orangerotes Rad.
Vielleicht war im van Dam kein Platz gewesen, so daß er zum elterlichen Haus weitergefahren war. An unserer Hauswand: kein orangerotes Rad, und Mirjam hatte ihn auch nicht gesehen.
War alles eine Sinnestäuschung gewesen? Nein, stellte sich heraus, als ich ihn das nächste Mal sprach. Verwegen in die Cornelis Schuyt gebogen, geschmeidig um die im Stau steckenden Autos herum? An dem und dem Tag? Das konnte stimmen, aber er war nicht im van Dam gewesen. »Was hätte ich da schon zu suchen?« Ach ja, natürlich, er hatte ganzschnell in der Buchhandlung Mulder neben dem van Dam eine Fotozeitschrift gekauft und war dann, um den Stau zu umgehen, auf dem Bürgersteig weitergefahren. Zu seinem Elternhaus hatte er nicht gewollt, sondern zu etwas ganz anderem, zu wem oder was, wußte er nicht mehr.
Ich schärfte mir ein, daß ich jedesmal, wenn ich an Tonio als ungeschickten Radfahrer dachte, versuchen mußte, ihn vor mir zu sehen wie damals in der Cornelis Schuyt, mit seinem elegant verwegenen Fahrstil. So, den Lenker nur locker umfassend, war er an jenem frühen Morgen (in jener späten Nacht) aus der Hobbemastraat geschossen, zielstrebig auf dem Weg zu – ja, wohin? Zu irgend etwas, das die Zielstrebigkeit zu dieser frühen oder späten Stunde lohnte.
6
Ich glaube nicht an eine Seele, die sich beim Eintritt des Todes aus dem Körper löst, um in irgendeiner ätherischen Form weiterzuexistieren. Es gibt Menschen, die nach einem einschneidenden Verlust erleuchtet werden und sich zu dieser oder jener Religion bekehren. So gern ich an die Anwesenheit, irgendwo, von Tonios Seele glauben würde, es reicht mir nicht: Ich will den Beweis dafür, daß seine Seele existiert, damit ich mich nicht an taube Ohren wende. Ich möchte ihn so leidenschaftlich gern von meiner Wut in Kenntnis setzen: darüber, daß er sein Leben nicht hat fortsetzen dürfen.
»Um dir die Wahrheit zu sagen, Tonio, ich bin wütend auf die ganze Welt. Für mich war es eine große Verschwörung gegen deine Zukunft. Meine Aufgebrachtheit ist allesdurchdringend. Der Zorn deiner Mutter ist wesentlich reiner. Sie gibt niemandem im besonderen schuld. Sie ist lediglich in deinem Namen wütend, weil du selbst keine Möglichkeit mehr hast, deine Empörung über den brutalen Diebstahl der Jahre zu äußern, die noch vor dir lagen.«
Beweise mir, daß seine Seele noch irgendwo ist, und ichlege mein lebendes Herz vor ihm bloß: meine Scham wegen seines Todes, meine Mitschuld daran, meine Versäumnisse zu seinen Lebzeiten.
Seine Seele braucht auf meine Enthüllungen
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