Tonio
Wutausbruch führen können, dessen akustischer Zeuge Tonio ein Stockwerk tiefer wurde.
Ach nein, damit würde alles wieder zu glatt an die richtige Stelle fallen. Vermutlich zitterte ein Wort, das ich suchte, auf der Spitze meiner Feder und wurde plötzlich durch das Einschalten einer Maschine fortgeweht, die draußen auf der Straße den Herbstblätterbrei aus dem Rinnstein blasen sollte. Irgend so etwas.
4
»In Zukunft wird es immer ein Davor und ein Danach geben«, schrieb jemand. Mit dem Verstreichen der Monate wird mir jeden Tag von neuem bewußt, wie wahr diese Worte sind. Eine tiefe Narbe zieht sich mitten durch mein Leben. »Davor« war mein Dasein wertvoll, »danach« ist es wertlos geworden – einfacher läßt es sich nicht formulieren.
Ich werde wahrscheinlich weiterschreiben, und falls ich die Kraft dafür finde, werde ich mir das Äußerste abverlangen, denn sonst hat es überhaupt keinen Sinn mehr. Doch an das Handwerk zu glauben wie damals, als ich Tonios Beschützer und Ernährer war, das ist vorbei.
In meinen schwärzesten Augenblicken bin ich sogar imstande, zu denken, daß mit mehr professionellem Einsatz meinerseits Tonio hätte gerettet werden können – wenngleich mir sofort bewußt wird, daß eine größere Konzentration auf die Arbeit zu seinen Lebzeiten die ihm zuteil gewordene Beachtung durch mich geschmälert hätte. Das ist der dunkle Wellenschlag meines verengten Grübelns.
5
Der Personenschadenadvokat aus der Tesselschadestraat (das schreit nach einem Limerick) hatte inzwischen die Akte der Abteilung Schwere Verkehrsunfälle erhalten inklusive der CD mit den Bildern vom Unfall, die eine Überwachungskamera des Holland Casino aufgenommen hatte. Der mit dem Fall betraute Staatsanwalt bot uns ein Gespräch an.
Die Beamten der Abteilung hatten uns zuvor das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchungen mitgeteilt, wonach der Fahrer des roten Suzuki »etwas zu schnell« gefahren sei und Tonio »ordentlich« getrunken habe. Aus der vom Anwalt angeforderten Akte ging nun hervor, daß der Suzuki an einer Stelle, an der maximal 50 km/h erlaubt waren, 67 bis 69 km/h gefahren war. Tonio hatte der Blutprobe zufolge 0,94 Promille Alkohol im Körper, was sechs bis sieben Gläsern Bier entsprach. (Einem Autofahrer waren 0,5 Promille erlaubt, also das Äquivalent von drei Gläsern Bier.)
»Sechs Pils«, sagte der Personenschadenanwalt. »Überraschend wenig. Damit fängt man den Abend an.«
Dieses Ergebnis überraschte mich. Ich hatte mir die ganze Zeit, widerstrebend, vorgehalten, Tonio sei ordentlich angetrunken gewesen. Schließlich war er bereits am Nachmittag mit Dennis auf einem Fest im Vondelpark gewesen, und danach hatten sie noch ein paar Dosen Bier bei Goscha getrunken. Gegen Mitternacht waren sie ins Trouw gezogen, wo Goscha zufolge die Runden »schnell« aufeinanderfolgten. Sie hatte sich in ihrer Erzählung über jenen Abend darüber beklagt, daß Tonio ihr immer zuvorgekommen sei und alle Getränke bezahlt habe. Nach Dennis‘ Worten hatte Tonio zwischendurch auch noch »einen Schuß Tequila« genommen. Wie konnte das alles in einem Promillegehalt resultieren, der sechs Gläsern Bier entsprach?
»Vergessen Sie nicht«, sagte der Anwalt. »Der Unfall ereignete sich vor vier Uhr vierzig am Morgen. Der Alkohol aus dem Bier vom Nachmittag und Abend ist dann längst abgebaut. Die Zahl der Runden in so einem Club wie Trouw darf man nicht überschätzen. Um die Zeit ist es dort proppenvoll, auch an der Theke, das heißt, mit diesen Runden geht es gar nicht so schnell. Wenn es sechs waren, alle sechs von Tonio geholt, dann hatte er damit reichlich zu tun. Sechs mal drei ist achtzehn … rechnen Sie das mal zu Nachtclubpreisen aus. Ich verstehe gut, daß Goscha sich schuldig fühlte und daß Tonio am Ende der Nacht nur noch fünf Euro im Portemonnaie hatte. Lassen Sie uns davon ausgehen, daß er, nachdem sich das Bier vom Nachmittag und Abend längst verflüchtigt hatte, mit fünf, sechs Pils und diesem einen Tequila intus in die Nacht radelte. Dann kann er höchstens noch etwas angetrunken gewesen sein, aber bestimmt nicht betrunken.«
Mirjam begleitete den Anwalt zum Gericht am Parnassusweg. Dem zuständigen Staatsanwalt zufolge stand es uns frei, einen Prozeß gegen den Fahrer wegen fahrlässiger Tötung aufgrund überhöhter Geschwindigkeit anzustrengen. Der Mann würde ohnehin eine Geldbuße dafür erhalten – fast zwanzig Stundenkilometer über dem Limit. Mirjam, und
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