Tonio
der Tonio das Leben gekostet hatte. Undjetzt hatte ihre Mutter beschlossen, denselben Weg zu gehen: sich vor die Räder eines Autos zu werfen, um so, wer weiß, den geheimen Durchgang zu Tonio zu finden. Hunderte von Malen hatte sie am Telefon ausgerufen, sie wolle nicht mehr leben, sie wolle sterben und so bei Tonio sein – und dennoch kam ihr Selbstmordversuch jetzt wie ein Messer in den Rücken.
»Wie eine Nachahmung«, sagte ich.
»So hoffte sie, mich zu bestrafen«, sagte Mirjam leise. »Sie weiß genau, wo sie mich am tiefsten treffen kann.«
32
Ich ging erst hinunter, nachdem ich den kleinen Umzugstransporter hatte wegfahren hören. Im zweiten Stock sah ich durch die offene Tür Tonios Möbel willkürlich in seinem ehemaligen Zimmer verteilt. Auf dem Flur im Parterre stapelten sich die Kartons mit den kleineren Sachen. Mirjam sah fix und fertig aus.
»Zum Glück weniger Kartons als erwartet«, sagte sie.
»Ist die Uhr aufgetaucht?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. Mir kam der Gedanke, daß er sie vielleicht verscherbelt oder ins Pfandhaus gebracht hatte. Ihm war schließlich zwei Wochen vor dem Unfall eine neue Uhr versprochen worden (die er bereits seit seinem Abitur bei uns guthatte, nebst Geld für den Führerschein). Tonio fehlte es ständig an Barem. Andererseits … auch für ihn hatten Gegenstände, zumal wenn liebe Menschen sie ihm geschenkt hatten, einen sentimentalen Wert, den er nicht ohne weiteres zu Geld machen würde.
»Sagen wir einfach«, meinte ich, »sie ist beim Unfall verlorengegangen.«
Ich dachte voller Scham an die Langspielplatten, für die sich meine Mutter zur Nikolaus- und zur Weihnachtszeit die Hacken abgelaufen hatte und die ich weit unter Preis verkauft hatte, weil ich der Meinung war, mein zu schwerer Tonarm habe ein störendes Rauschen eingegraben. War das kein Verscherbeln gewesen?
In letzter Zeit hatte ich so viele Parallelen zwischen seiner Studentenzeit und meiner vor fünfunddreißig, vierzig Jahren entdeckt, daß es auf die Neigung, Dinge zu verhökern, auch nicht mehr ankam.
33
Zu guter Letzt, bevor die Wohnung in der Nepveustraat wieder dem Schummler übertragen wurde, der der Hauptmieter war, fand jemand Tonios Uhr auf der Trennwand zwischen Dusche und WC . Der Bügelverschluß des Armbands war kaputt. Die Uhr zeigte noch die Winterzeit an. Ende März hatte die Sommerzeit begonnen. In dem nach wie vor anhaltenden Fieber unserer Rekonstruierungsbemühungen schlossen wir daraus, daß der Verschluß mindestens zwei Monate vor Tonios Unfall entzweigegangen war. Daß ihm die Uhr lose am Handgelenk hing, entdeckte er wahrscheinlich beim Gang auf die Toilette oder beim Duschen, worauf er sie, um die Hände frei zu haben, erst mal auf die Trennwand gelegt hatte. Dort hatte sie fünf Monate oder noch mehr unbenutzt die Winterzeit verlängert.
»Die Vorstellung, daß er sie schlaftrunken oder angetrunken, was weiß ich, dort hingelegt hat …« sagte ich zu Mirjam, »und dann nicht mehr gewußt hat, wo er sie gelassen hat …«
»Das wirft ein ganz anderes Licht auf die Anschaffung der neuen Uhr«, sagte sie. »Weiß der Himmel, wie mies er sich dabei gefühlt hat.«
»Eine neue Uhr, dazu ist es nicht gekommen.«
»Er hat sich zu fertig dafür gefühlt.«
Mirjam ließ die Uhr reparieren und den Bügelverschluß an ihr eigenes Handgelenk anpassen, das bedeutend dünner ist (war) als das ihres Sohnes. Seit sie sie beim Juwelier abholte,trägt sie die Uhr, die mit all ihren Knöpfen neben dem drehbaren Zifferblatt besonders männlich wirkt, ununterbrochen – Tag und Nacht.
KAPITEL VI
Nahrhafter Hunger
1
Kurz nachdem Mirjam Tonios Wohnung in De Baarsjes geräumt hatte, richtete sie sein ehemaliges Zimmer in unserem Haus wieder mit den ursprünglichen Sachen ein. Tagelang wagte ich nicht, es zu betreten, doch als ich einmal gedankenverloren hineinging, fiel mir wieder auf, wieviel Geschmack er hatte – nichts Luxuriöses, aber alles teuer.
Sogar die überdimensionale Bahnhofsuhr, über die er selbst am lautesten hatte lachen müssen, war wieder da.
Zwei Wochen nach Pfingsten hatte Fotograf Klaas Koppe einen Umschlag voller Vergrößerungen von Fotos gebracht, auf denen Tonio zu sehen war, darunter einige vom letzten Bücherball: Tonio mit seinen Eltern, Tonio mit Klaas‘ Tochter Iris. Mirjam hatte sie sofort eingerahmt und im Treppenhaus an die Wand gehängt, in einer viel benutzten Biegung. Nicht lange danach berichtete sie mir
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