Tonio
und Geständnisse nicht zu antworten, Hauptsache, ich weiß, daß er da ist , als zuhörende oder auf andere Weise registrierende Instanz, notfalls als kosmisches schwarzes Loch, aus dem nicht einmal ein schwaches Echo des ihm Anvertrauten zu mir zurückkehren wird.
»Die paarmal, die jemand in den vergangenen Wochen den Mut hatte, zu fragen, ob ich an irgend etwas arbeite, habe ich geantwortet: ›An einem Requiem über Tonio.‹ Richtig wäre gewesen: ›Für Tonio.‹ Ich schreibe es in erster Linie für dich. Nein, nicht für deine Seelenruhe. Ich hoffe vielmehr, die Aufmerksamkeit deiner Seele zu erlangen. Sie soll unruhig werden. Mit ihrer Hilfe möchte ich dich wissen lassen, daß die Schmerzen, die du einen halben Tag lang erduldet hast, von uns übernommen wurden. Für den Rest unseres Lebens. Von wegen ruhe sanft. In diesem Schmerz sind wir fortan vereint. Du, Mirjam und ich. Und sollte es die Seele geben, auch unsere, dann endet diese Vereinigung nicht mit unserem Tod.«
7
Sag ehrlich, Tonio, hat es dich nicht gewurmt, daß Goscha, anstatt mit dir nach De Baarsjes zurückzufahren, lieber Dennis in der Govert Flinck noch ein wenig Gesellschaft leistete? Du hättest nicht allein wegfahren müssen. Schließlich warst du auch eingeladen, bei Dennis noch etwas zu chillen. Du hast nicht schnell nein gesagt, wenn es um die Fortsetzung irgendeiner Festivität ging.
Oder glaubtest du, Dennis und Goscha wollten lieber für sich sein und drängten dich hauptsächlich aus Höflichkeit, mit von der Partie zu sein? Vielleicht hatte es in jener Nachtja schon zu einem früheren Zeitpunkt Anzeichen dafür gegeben, daß die beiden sich mehr als nur freundschaftlich mochten … Fühltest du dich ausgeschlossen? Wolltest du diskret sein und Goscha und Dennis den Rest der Nacht überlassen?
Jim zufolge, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Bett war, hattest du versprochen, gegen vier zu Hause zu sein, damit er noch etwas Gesellschaft hätte. Dennis und Goscha berichteten uns sogar von einem Spielfilm, den du und Jim, noch so spät, gucken wolltet. Goscha, die von euch dreien am stärksten angeheitert war, war sich da nicht sicher: »Vielleicht war er einfach zu müde und wollte ins Bett. Wir hatten ziemlich viel getrunken.«
Goscha erzählte uns, sie sei in Dennis‘ Wohnung »fast auf der Stelle« eingeschlafen. Sie meinte, daß Dennis, vielleicht deswegen, hinterher böse auf sie war.
Vorläufig standet ihr noch, Fahrrad zwischen den Beinen, an der Ecke des Sarphatiparks in der Nähe der Kreuzung der Eerste und der Tweede van der Helststraat mit der Ceintuurbaan. In den sieben Jahren, die ich in der Van Ostadestraat wohnte, war ich fast täglich hier vorbeigegangen, alles in allem viele Hundert Male. Ich stelle mir vor, daß du an der Stelle standest, an der früher, als ich noch keinen eigenen Anschluß hatte, meine Stammtelefonzelle war, von der aus ich meine Angelegenheiten regelte und Verabredungen traf. Hier hatte ich an einem Samstag im Frühjahr ‘78 verzweifelt einen medizinischen Hilfsdienst nach dem anderen angerufen, wobei ich nur an Anrufbeantworter geriet, während die ersten Tropfen hellroten Bluts aus meinem Hosenbein auf den Terrazzofußboden spritzten: ein Fall von eingerissener und unstillbar blutender Vorhaut.
Worüber habt ihr gesprochen, die dröhnenden Beats vom Club Trouw noch in den Ohren? Ich höre dein Lachen über die stille Kreuzung schallen, kann aber nicht verstehen, was du sagst, außer einem quasi-entrüsteten: »Aber Dennis, hee, Mann …«, gefolgt von weiterem Gelächter.
Von dort, wo du stehst, kannst du den Kirchturm an der Ecke Tweede van der Helst/Van Ostade in die Nacht aufragen sehen. Würdest du dort links abbiegen, wärst du mit wenigen Pedalumdrehungen bei der Häuserreihe (heute Neubauten), in der deine Geschichte, wenn auch noch nicht körperlich, begann. Dort, vor der Schule neben Haus Nummer 205, sind deine Mutter und ich uns zum erstenmal begegnet. Sie rollerte mit dem Fahrrad über den Bürgersteig und grüßte mich im Vorbeifahren. Sie trug einen abgelegten Regenmantel deines späteren Opas Natan – ein dermaßen schmutziges Kleidungsstück, völlig schwarz an den Aufschlägen und zwischen den Knöpfen, daß ich ihr in Gedanken sofort verbot, es je noch einmal anzuziehen. Ich hatte natürlich bereits bemerkt, welch dunkle Schönheit sich unter dieser alten, formlosen Hülle verbarg.
Rund dreißig Jahre ist das her, und dort, in dieser heruntergekommenen
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