Tonio
von einem Lastwagen ohne Toter-Winkel-Spiegel überfahren wurde. Er war mit dem Fahrrad auf dem Weg ins Vossius: sein allererster Tagim Gymnasium. Der Junge überlebte knapp. Du gingst in derselben Woche zum erstenmal in ein anderes Gymnasium, das Ignatius, und dadurch erfuhrst du von dem, was Jakob zugestoßen war, nicht gleich, sondern erst auf Umwegen. Eines der wenigen Male, daß wir richtig mit dir schimpften: weil du uns viel zu spät und wie beiläufig davon unterrichtet hast. »Ach, wißt ihr, was ich gehört habe … also, Jakob, der ist …«
Heute denke ich, daß der Ernst der Situation, die tödliche Gefahr, dir damals noch nicht richtig bewußt war. Und außerdem, Jakob und die Grundschule, das war schon wieder so lange her, jetzt, wo das neue Leben vor dir lag. Trotzdem hast du dich immerzu, mit Tränen in den Augen, für deine Nachlässigkeit entschuldigt: So langsam ging dir ein Licht auf.
Die Ampel springt auf Grün. Jetzt werde ich dir ernsthaft ins Gewissen reden. Ich rate dir … nein, ich flehe dich an … hier links abzubiegen, in die De Lairessestraat. Ein Stück weiter, hinter der Kreuzung mit der Jacob Obrecht, rechts in die Banstraat. Dann schnell noch nach links – bis zu deinem Elternhaus in der Johannes Verhulst. Die ganze Hauswand ist frei, um dein Rad abzustellen.
Junge, du bist müde, du hast getrunken, du fällst mitsamt deinem Rad vor Schläfrigkeit schon um. Verzichte auf dieses ganze Ende nach De Baarsjes. Okay, Jim wird enttäuscht sein, aber er merkt es schon von allein und wird früher oder später ins Bett gehen. Erklär es ihm morgen.
Du denkst vielleicht, du wärst voll da, weil du über Jenny nachdenkst, aber im Grunde döst du nur träge-verliebt vor dich hin. Zugegeben, um diese Zeit gibt es kaum Verkehr, aber … du mußt noch über die Kreuzung Eerste Constantijn Huygens/Overtoom … nach links … Vor allem die Taxis fahren dort nachts wie die Idioten.
Du hast den Hausschlüssel. (Er hängt, wenn ich mich nicht irre, am selben Ring wie dein Fahrradschlüssel.) Sonstschleichst du auch immer lautlos die Treppe hinauf. Du wirst uns nicht wach machen. Außerdem, ich sitze senkrecht im Bett, geweckt von einem rumorenden Magen als Folge von zuviel Knoblauch, wie eine Katze, die einen Haarball hinauswürgt. Es geht auf halb fünf zu, sehe ich auf meiner Uhr. Zwischen den Vorhängen noch kein Licht.
Leg dich im Wohnzimmer einfach auf die Couch. Die Wolldecke, unter der Mama gestern abend ferngesehen hat, liegt da noch irgendwo herum. Kissen gibt es mehr als genug. Du hast in diesem Haus sechzehn Jahre deines Lebens verbracht. Nach dem Abitur hattest du es nicht eilig auszuziehen – du bist noch zwei Jahre unter Mutterns Fittichen geblieben. Dann kommt es auf diese eine Nacht doch nicht an, oder? Tu‘s uns zuliebe. Ich sehe dich demnächst im September, wenn du aus der Nepveustraat rausmußt, sowieso wieder bei uns einziehen. Laut Angaben des Statistischen Amtes kehren immer mehr junge Leute, nachdem sie ein paar Jahre allein gewohnt haben, wieder ins Haus ihrer Eltern zurück. Die Demographen sprechen von Bumerangkindern. Einen Generationenkonflikt gibt es nicht mehr.
Ich meine ja nur: es ist keine Schande. Schlaf morgen früh so lange aus, wie du willst. Mama macht dir ein phantastisches Pfingstfrühstück.
10
Einen Moment lang scheint er zu schwanken, aber das liegt an seiner unsicheren Fahrweise. Er steht, den Hintern vom Sattel gehoben, nahezu still auf den Pedalen und fällt beinahe um. Auf der anderen Seite des Concertgebouw könnte er immer noch nach links abbiegen, vorbei am Welling, wo er als Kind sonntags nachmittags so viele Stammtischstunden mit seinem Vater verbracht hat.
Tonio fährt geradeaus weiter. Seine Route liegt fest. Van Baerle, vorbei am Stedelijk Museum, Vondelparküberführung, Eerste Constantijn Huygens. Links auf den Overtoom und dann weiter Richtung De Baarsjes und zum schlaflos wartenden Jim.
Auch an der nächsten Kreuzung kann er es sich noch anders überlegen. Nach links auf den Willemsparkweg, dann ist er im Nu zu Hause. Einen Augenblick scheint es, als wolle er nach rechts in die Paulus Potterstraat, aber er korrigiert sich rasch und kehrt mit einem flachen Bogen in die Van Baerle zurück, wo er am Konservatorium vorbeifährt, das jetzt zu einem Hotel umgebaut wird.
Als er, diesmal gezielt und entschlossen, in die Jan Luijkenstraat biegt, weiß ich auf einmal, was ihn treibt.
Weißt du, Tonio, ich mache mir manchmal Sorgen
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